Der Erdgeist und das Mädchen

[424] 1.

Oftmals ging die weiße Mila,

Mila mit den roten Locken,

In das dunkle Waldgebirge,

Wo des Erdgeists Höhle lag.


Und sie kränzt die roten Locken

Mit den blauen Glockenblumen,

Und sie streckt die weißen Arme

Schimmernd nach der Felsschlucht aus.
[424]

»Erdgeist,« ruft sie spottend, »lieber,

Dunkler, feuerschöner Erdgeist,

Komm hervor und laß dich schauen:

Denn mein Herz verlangt nach dir.«


Und dann braust es in den Schlünden

Und dann zuckt es in den Felsen

Und dann grollt es in den Tiefen,

Dampf und Funken steigen auf.


Und der Geist rief aus dem Berge:

»Kind, laß ab, mich zu verspotten,

Kind, laß ab, mich aufzureizen,

Denn du quälst mich freventlich.


Sieh, es zucket in den Felsen,

Weil dein Ruf mein Mark durchdringet,

Und es sprühen rote Funken,

Weil dein Bild mein Herz entflammt.


Zittre, wenn ich, deinem Rufe

Folgend, aus der Tiefe steige:

Ich zerstöre, was ich liebe

Und mein Kuß ist Flammentod.«


Doch es lacht die weiße Mila

Und sie schüttelt keck die Locken:

»Also ich, das kleine Mädchen,

Quäle dich, den mächt'gen Geist?


Erdgeist, sieh, das eben freut mich!

Zucke nur, und glüh' und leide! –

Und es lüstet mich auch sehnlich,

Und es reizt mich, dich zu schau'n.
[425]

Und nicht fürcht' ich deine Flammen,

Weil mich weise Mönche lehrten,

Augenblicks mußt du erliegen

Vor dem einen Wörtlein: – 'Kreuz.'


Sieh, schon ruht der Felsen Zucken,

Es versiegen Dampf und Funken

Und in Ohnmacht sinkt dein Toben,

Weil ich nur dies Wörtlein sprach.«


2.

Süß die Lindendüfte hauchten,

Heiß die Nachtigallen schlugen

Durch die dunkle, liebesschwüle,

Liebestrunkne Sommernacht.


Neckend halb und halb in Sehnsucht

Flüstert an den Fels geschmieget

Mila leise Liebesworte

Und ihr Busen wogt und wallt:


»Steig' empor doch, dunkler Erdgeist!

Mächtig sehnt mich's, dich zu schauen:

Zucken fühl' ich deine Felsen,

Funken sprühst du wie noch nie.


Mich verdrießt der matten Herzen,

Die mich frei'n, der Erdenknaben:

Steig' empor, denn meine Seele

Ahnet dich als artverwandt.«


Da erkracht im Grund die Erde

Und aus urwelttiefem Schoße

Steigt in Glut und Pracht und Lohe

Schrecklich schön der Gott empor:
[426]

Auf dem Haupt die Feuerkrone,

Auf den Schultern schwarze Locken:

Göttlich traurig sind die Augen

Und doch jeder Blick ein Blitz.


Stolz und still und majestätisch

Breitet weit er aus die Arme

Und ein Flammenpurpurmantel

Flutet herrlich um ihn her.


Da vergißt der Priesterweisheit

Und des Rettungswörtleins Mila,

Und nur ein Wort kann sie denken,

Kann sie flüstern: »O wie schön!«


Und in seine Arme sinkt sie,

Weiße Glut steigt auf und schweigend,

Triumphierend in die Tiefe

Trägt der Erdgeist seine Braut.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 424-427.
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