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[466] Im Abendland
Ja brecht nur auf mit Bußetränen,
Ihr Schwärmer, die mein Herz verlacht,
Wohl folg' auch ich glutheißem Sehnen
Nach jenes Wunderlandes Pracht:
Doch meine Sehnsucht heißt: – die Macht.
Hier hemmt von überlegnen Fürsten
Mich rings ein neidisches Geschlecht:
Die Seelen, die nach Kronen dürsten,
Fängt hier in engem Netzgeflecht
Der Stärke stärkster Feind: das Recht.
Doch drüben kann die Schwingen spannen
Mein Herz, so weit es nur begehrt,
Wo jedem wagenden Normannen
So reiche Herrschaft wird beschert,
Als seine List reicht und sein Schwert
Hier nur ein Graf von wenig Hufen –
Dort drüben winkt ein Diadem:[466]
Schon hör' ich tausend Stimmen rufen
Laut von Byzanz bis Bethlehem:
»Heil König von Jerusalem!«
Im Morgenland
O laß zu deines Kreuzes Füßen
Mich Tag für Tag, du Gottessohn,
Den Frevel meiner Seele büßen!
Ich zog hieher, wie dir zum Hohn,
Aus eitlem Trieb nach Macht und Thron.
Doch schon, als ich dies Land beschritten,
Wo dir der Demut Palme ward,
Wo du gekämpft, gesiegt, gelitten,
Zerschmolz dies Herz, so stolz und hart,
Vor deiner Wunder Gegenwart.
Und als ich lag im Todesschauer
Der Pest, ein aufgegebner Mann,
Bog sich dein Bild voll Gottestrauer
Vom Kreuz zu mir und blies mich an:
»Du lebst, – doch lebst du mir fortan!«
Verwandelt ist seitdem mein Wesen; –
Von aller Erdenwünsche Pein
Bin ich für immerdar genesen,
Ich denke, statt an Kronenglanz,
Nur noch an deinen Dornenkranz.
So laß an deinem Grab mich knieen
Mit Buße, Tränen und Gebet,
Bis unter Engelsmelodien
Mein Geist in deinen Frieden geht,
Du einzig wahre Majestät.
[467]
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