Gebet

[300] September 1848.


Herr, in dieser Zeit Gewog',

Da die Stürme rastlos schnauben,

Wahr', o wahre mir den Glauben,

Der noch nimmer mich betrog,[300]


Der noch sieht in Nacht und Fluch

Eine Spur von deinem Lichte,

Ohne den die Weltgeschichte

Wüster Greuel nur ein Buch;


Daß, wo trostlos unbeschränkt

Dunkle Willkür scheint zu spielen,

Liebe doch nach ew'gen Zielen

Die verborgnen Fäden lenkt;


Daß, ob wir nur Einsturz schaun,

Trümmer, schwarzgeraucht vom Brande,

Doch schon leise durch die Lande

Waltet ein geheimes Baun;


Daß auch in der Völker Gang

Wehen deuten auf Gebären,

Und, wo Tausend weinten Zähren,

Einst Millionen singen Dank;


Ja, daß blind und unbewußt

Deiner Gnade heil'gen Schlüssen

Selbst die Teufel dienen müssen,

Wenn sie tun nach ihrer Lust.


Herr, der Erdball wankt und kreißt;

Laß, o laß mir diesen Glauben,

Diesen starken Hort nicht rauben,

Bis mein Geist dich schauend preist!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 300-301.
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