Eutin

[184] Vom alten Lübeck, wenn die Zeit der Pfingsten kommt,

Hinaus ins Weite treibt mich stets die Wanderlust,

Im jungen Grün zu schwelgen; nach Eutin zumeist,

Dem waldumkränzten, zieht es mich, wo mir der Freund

Von alters her, der rechtsgelehrte, heimisch ist.

Ein Stündchen Weges kommt er mir entgegen wohl

Und lenkt den offenen Wagen, der uns beide faßt,

Zum Tor des Gasthofs, wo im kühlen Saale schon,

Auf saubrer Tafel, die ein Kelch mit Rosen schmückt,

Das Mahl der Wirt vorsorglich uns gerüstet hat.

Bei Tisch behaglich plaudern wir, und nimmer geht

Der Stoff uns aus; denn sind wir alten Knaben auch

An Sinn und Neigung urverschieden: treu verknüpft[184]

Der Boden uns, drin unsres Lebens Wurzeln stehn.

Und was ist süßer, als der goldnen Jugendzeit

Beim Wein gedenken, manches tollen Knabenstreichs

Und jener hohen Stunden, da sehnsüchtig uns

Des Herzens Überfülle schier die Brust gesprengt!


So dehnt mit Lust verzögert sich das Mahl hinaus;

Erst spät nachmittags, wenn die Lüfte draußen sich

Gemach verkühlten und der pflichtgetreue Freund

Gewissenhaft noch einmal zu den Akten kehrt,

Mach' ich mich auf ins Freie. Zwar der Uglei ward,

Der wie ein Schild aus Edelstein im dunkeln Kranz

Des Waldes ruht, dem nächsten Abend aufgespart;

Doch hier ist lieblich jeder Weg, den du betrittst.


Die lange Straße geht's hinab; zur Rechten bleibt

Der Sitz der Stolbergs, stattlich, wie der Adel baut,

Mit Steingesims und Wappenschildern ausgeziert.

Doch nah dem Tor, im Lindenschatten, winkt mir dort

Am Bug der Gasse stillzustehn ein ander Haus,

Bescheidnen Ansehns, aber gern von mir gegrüßt:

Das Haus, in dessen seebespültem Garten einst

Am Sommerabend, voll idyllischer Heiterkeit

Aus irdner Pfeife Wölkchen dampfend, Heinrich Voß

Im Schlafrock zwischen Fliederbüschen wandelte.

Sei mir gepriesen, Alter, der den Knaben du,

Ein treuer Dolmetsch, in die sonnige Fabelwelt

Der Griechen führtest, wenn sich auch ihr Goldgeweb'

Ein wenig unter deiner Hand vergröberte

Und oft zu schwer Joniens flüssige Weise dir

Von niederdeutscher Lippe quoll. Luisens auch

Gedenk' ich gern, um deren ländlich Angesicht

Voll derber Frische manch homerisch Lächeln spielt;

Nicht zu vergessen, daß an ihr emporgelehnt

Die schönere Schwester, Dorothea, uns erwuchs,[185]

Von anderm Vater freilich, dessen Hoheit ihr

Die Stirn umleuchtet, aber ihre Schwester stets.


Doch wo verweil' ich? Längst schon aus des Städtchens Tor

Hat unvermerkt hingleitend mich der Pfad entführt.

In offner Landschaft find' ich mich, wo See an See

Mit holdem Gruß blauäugig aus der Tiefe lacht,

Und über sanften Hügeln schwebend, wipfelreich,

Der Buchenforst auf säulenhohen Stämmen wogt.

Gelockt vom Schatten tret' ich in die Finsternis

Des grünen Doms. O, welche Kühle säuselt hier

Vom Laubgewölbe! Welch geheimnisvoller Duft

Umweht die braunen Quellen und den blühenden

Waldmeisterteppich, der den ganzen Hang bedeckt,

Und füllt die Seele märchenhaft dem Rastenden

Mit allem Zauber schauernder Waldeinsamkeit!

An dieser Stätte grüßte wohl zum erstenmal

Die Muse deinen tonbegabten Sohn, Eutin,

Auf weißem Zelter schwebend, die romantische,

Im wilden Laubkranz; hier erwuchs im Busen ihm,

Den ihrer Locken weithinflatternd Gold gestreift,

Die tiefe Waldhornstimme, die Preziosen uns,

Den Schützen Max und Euryanthens Liebe sang

Und dann in Englands Nebeln, ach, zu früh verlosch.


Gedenkst du seiner, schwermutvolle Nachtigall,

Die du vom See jetzt, silbern, durch die Blätternacht

Dein schmelzend Gramlied strömen lässest, Ton an Ton

Wie Tropfen Taus hinperlend? Oder klagst du nur,

Daß wieder drüben jener Sonnen eine sinkt,

Draus sich dein kurzer Frühling webt? – Du mahnst mich recht;

Auch unsre Tage sind gezählt. So laß uns denn

Der Stunde froh sein, die so schön nicht wiederkehrt!

Den Schritt beflügelnd tret' ich aus den Stämmen schon[186]

Des Hügelforstes auf den freien Rand hinaus,

Und wie sich flutend Heut'ges und Vergangnes mir

Im Herzen mischen, seh' ich dort im stillen See

Des Abends Goldgewölk verglühn, doch überm Wald,

Sein weißes Licht dreinträufelnd, schwebt der Mond empor.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 184-187.
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