An die Sonne

[279] Wieder steigt der Nebel, wieder

Strömt ins Tal der Regen nieder,

Das sich grau und freudlos dehnt.

Bist du ganz denn mir im Norden

Treulos worden,

Du, nach der mein Herz sich sehnt?


Die du doch zu tausend Malen

Liebevoll mit deinen Strahlen

Mich wie eine Braut umfingst[279]

Und mir still des Liedes Blüte

Im Gemüte

Wecktest, wenn du kamst und gingst.


Fast bedünkt es mich, man raubte

Dir dein Goldgelock vom Haupte

Samt der Krone von Rubin,

Und nun wallst du, hohe Sonne,

Eine Nonne,

Nur im Schleier noch dahin.


Ach, und kaum in diesem blassen

Zwielicht weiß ich's mehr zu fassen,

Wie du einst so jung und schön

Mir in göttergleichem Prangen

Aufgegangen

Über Delos' Felsenhöhn.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 279-280.
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