Frühling

[364] (Nach dem Französischen.)


Der Lenz ist da; der laue Westhauch spielt,

Die Fenster, die der Frost verschlossen hielt,

Öffnen sich rings mit frohem Lärmen;

Es bricht ein Strom herein von Duft und Licht

Und lockt unwiderstehlich. Hörst du nicht

Die Kinder auf den Gassen schwärmen?


Der Lenz ist da; er ruft auch mich zum Fest;

Am Nachbarhause die Kastanie läßt

Die Blütenfederbüsche wallen;

Zum Tor gleich bunt entpuppten Faltern zieht

Ein Schwarm von Mädchen, der am ersten Lied

Sich freuen will der Nachtigallen.


Froh sinnend folg' ich nach, die Brück' entlang;

Vom Flusse schallt Gelächter und Gesang;

Die Gärten tun sich auf im Kranze;

Wie labt den Blick des Rasens grüner Samt,

Gestickt mit Perlen Taus! Wie wogt und flammt

Das Tulpenbeet im Sonnenglanze!


Nun winkt das Dorf. Im Turme läutet's, horch!

Vom hohen Strohdach überschaut der Storch

Ernst klappernd seines Weichbilds Grenzen;

Dazwischen schallt's vom Krug wie Geigenstrich,

Und unterm blühnden Birnbaum tummelt sich

Das Volk in ländlich schlichten Tänzen.


Ich aber wandle still, bis tief im Wald

Des Reigens Jubel hinter mir verhallt;

Da pocht mein Herz in raschern Schlägen,

Denn aus den Büschen tritt, den Blick voll Glanz,

Im goldnen Haar den jungen Veilchenkranz,

Die Muse lächelnd mir entgegen.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 364-365.
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