Vierte Vorstellung.

[140] Ich fühlte mich in einem Ringe, wie von bläulichtem Lichte eingeschlossen. Da war alles um mich eine unaussprechliche Hellheit. Lichte, bunte Bilder wie die eines Schattenspieles schwebten an mir vorüber, und eine Stimme erklang aus dem Ringe zu mir: »Siehe da, Bilder aus deinem kommenden Leben!«

Dunkle, schwarze Wälder auf hohen Gebirgen zogen vorüber. Jetzt kam ein enges Tal von wilden Gewässern durchflossen, hellgrüne Waldwiesen, auf die die hohen Gebirge mächtige Schatten warfen. Ein sparsamer Himmel blickte nieder, kein Vogel durchschiffte ihn; aber hundert lebendige himmelblaue Quellen sah ich von den Gebirgen ins Tal eilen. Aus Spalten geborstener Granitfelsen sah ich einen wundersamen warmen Born quellen, in dessen Tiefen ich den Gesang einer Nymphe vernahm. Viele Leidende sah ich zu diesem Heilborn pilgern. Ich sah mich in die rätselhafte Tiefe niedersteigen, sah, wie die Nymphe mich durch geheimnisvolle Werkstätten führte, die ihr Wasser bereiteten. Ich war von ihrer segenreichen Kraft durchdrungen. Die Nymphe erkor mich zu ihrem Priester, ich lauschte ihrem wundersamen Gesange und verkündigte, was sie in rätselhafter Tiefe sang, den Menschen im Lichte.

Die unterirdische Gegend verschwand; es kamen andere Täler, andere Berghöhen, ein weiterer Himmel, aber immer noch Wälder, stille Hütten auf einsamen Waldwiesen. So sehr auch diese Täler, Wiesen und Hütten wechselten, so hatten sie immer ein und denselben Hintergrund, und das war ein einsamer, kahler Berg, der blickte immer trauernd zu mir her, und so trauernd und einsam wie er, sah ich mich immer in all diesen Wäldern, Tälern und Waldwiesen stehen und gehen, und eine Stimme hört' ich aus dem Ringe rufen: »Dort stand der Hohenstaufen Haus

Aber auf einmal erschien ich mir lächelnd und fröhlich am Wanderstabe durch die Wälder und Wiesen wallend, neben mir zu Rosse eine zarte weibliche Gestalt, ein blühendes Kind vor sich auf dem Schoße haltend.

Die Wälder verschwanden, der Himmel wurde immer weiter und lichter, und ein gesegnetes Tal voller Berge mit Neben lag vor uns ausgebreitet, und statt des kahlen trauernden Berges im Hintergrunde ein hoher lachender Rebenhügel mit einer Burg. Da hört' ich eine Stimme aus dem Ringe rufen: »Sieh,[141] da die Burg der Frauentreue!« Ein kleines, freundliches Haus unter schattigen Bäumen ersah ich an des Berges Fuß, das war von Rebenranken bekränzt, und volle Trauben hingen von ihnen ob seinem Eingange nieder. Unter ihnen sah ich drei Kinder mit Blumen spielen, sie schienen jener weiblichen Gestalt anzugehören, die trat jetzt, Früchte und Kräuter in einem Korbe tragend, ins Häuschen ein und schien sie zu gleichem Geschäfte anzuweisen.

»O du,« hört' ich sie sprechen, »so ist es denn kein Traum! Du bist es, und das sind unsere Kinder! Überschaue hier das Ganze!« Auf einmal sah ich mich da mit ihr auf einem alten Turme im Garten des Hauses stehen, der weit in das Tal hineinsah. »O!« hört' ich mich sagen, »da ist ja das Gemälde wahr geworden, das in meinen Schatten steht, da in der Geschichte von dem Andreas mit der Anna

»O! sag' es mir hier wieder«, hört' ich sie sagen. Da hört' ich mich rezitieren:


»Schaue über die Berge!

Denn dort will ich an den Himmel

Dir ein licht Gemälde malen.


Steigen aus der Näh' und Ferne

Hohe Berge an den Himmel,

Stürzen helle, kühle Quellen,

In ein blumigt, grünes Tal.


Stützt der Wanderer im Tale

Auf den Stab sich, einzuatmen

Jugend, Freiheit, Liebe, Kraft.


Steht gelehnt an einen Felsen,

Unter Laub und Rebenblüte,

Dort ein kleines Haus verborgen;

Steh' ich vor dem kleinen Haus.


Kommt vom Bache, Kräuter tragend,

Dort ein liebes, junges Wesen,

Bist du es – die Meine längst.


Ist kein Lauscher mehr zu fürchten,

Drück' ich dich, du süßes Wesen!

An ein treues Herz voll Liebe

Offen vor des Himmels Aug'.[142]


Aber weh! o wehe, Mädchen!

Siehst du dort nicht jenen Raben?

Ächzend fliegt er durch den Himmel,

Und verlöscht mit schwarzem Fittich

Mein Gemälde, weh! o weh!«


In weiter Ferne bewegte sich am Horizonte etwas wie ein schwarzer Punkt. »Es ist sonderbar,« hört' ich mich sagen, »da kommt ja auch wirklich der Rabe.« Der Punkt wurde immer größer und größer, es war etwas wie von weiten, schwarzen Flügeln getragen. »Mich schaudert,« hört' ich sie sagen, »das ist kein Rabe.« Da kam es immer näher und näher, man sah und hörte das Flattern schwarzer Tücher. »Weh!« hört' ich sie rufen, – »das ist ein Sarg!« und ich erwachte.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 140-143.
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