Die Auster und die Kläger

[170] Zwei Wandrer sahen einst im Sand

Vor ihren Füßen eine Auster liegen.

Ihr Blick verschlingt die Beute, und die Hand

Will wie der Blick so schnell zur Erde fliegen.

Schon bückt der eine sich, die Muschel aufzuheben;

Der andre doch versetzt ihm einen Stoß:

»Man muß erst zu ergründen streben,

Wen von uns beiden trifft das Freudenlos.

Derjenige von uns, der sie zuerst gesehen,

Soll diese Auster schmausen.«

»Oh,« rief der andere, »da kann ich gut bestehen,

Mein Auge ist vortrefflich, ohne Flausen.«

Der erste drauf: »Ich sah sie ehr als du,

Bei meinem Leben, mir gehört sie zu!«

»Ich aber hatte sie vorher bereits gerochen.«

So wurde hin und her gesprochen,

Als Perrin Dandin sich hinzugesellt.

Er wird als Richter aufgestellt.

Perrin bricht stumm die Auster auf und schlürft sie aus.

Die beiden sehn verdutzt ihn an.

Der Präsident zieht seine Stirne kraus

Und sagt sodann:

»Hier, das Gericht teilt jedem eine Schale zu,

Nun geht nach Haus und gebet Ruh.«


Bedenkt, was heute ein Prozeß verschluckt,

Berechnet auch, daß manchem nichts mehr bleibt,

So seht ihr bald, wonach es Perrin juckt,

Der euch mit leerem Sack nach Hause treibt,[171]

Nachdem er alle Kosten eingezogen

Und bis aufs Blut euch ausgesogen.

Drum, beide, einigt euch, so gut es eben geht,

Weil sonst ein Dritter euch die Nase dreht.

Quelle:
Lafontaine, Jean de: Fabeln. Berlin 1923, S. 170-172.
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