Das Vogelnest

[835] An eine Kirche kam ich einst zu wallen,

Mit Klosterzellen, längstverlaßnen Hallen;

Ich trat hinein und fühlte schier Bedauern

Und wie geheime Scheu vor den Erbauern,[835]

Daß mir in ihrem Haus der Glaube fehlte,

Der sie so fromm zum schönen Werk beseelte.


Wo waren sie? – ich trat auf ihre Grüfte;

Gemähtes Gras auf allen Hügeln lag,

Zum Abend neigte sich der Sommertag,

Die Luft war lieblich von dem Heugedüfte.

Ein zitternd Spiel ergriff das Laub der Linde,

Ganz ruhig lag das Heu im Abendwinde,

Da war kein leichtes Schwanken mehr und Beben,

Still drunter das gemähte Menschenleben.


Der Kirchhof ist vom Kreuzgang eingeschlossen,

Wo Efeuranken an den Fenstern sprossen;

Die schlanken Pfeiler sind so fest gestellt,

Die Bögen leicht und kühn emporgeschnellt,

Hoch, luftig ragt der fromme Bau noch spät,

Die Mönche einst in keuscher Himmelskühle

Bewahrend vor der dumpfen Erdenschwüle;

Der Geist, der so gebaut, ist längst verweht.


An spitzgebognen Fenstern ist zu schauen

Laubwerk und manche Blum in Stein gehauen;

Vor allen Bildern zierlich, wahr und lebend

Ein steinern Vogelnest am Aste schwebend.

Der Jungen Schnäblein heischend aufgerissen,

Die Mutter sie zu atzen hold beflissen,

Sie wärmend mit den aufgespreizten Schwingen;

Die Kleinen werden fliegen bald und singen.


Ich stand gefesselt von des Meisters Macht

Und sann gerührt, was er sich wohl gedacht.

Hat er im Bild die Kirche still verehrt.

Wie sie getreu die Kinder schützt und nährt?

Wollt er vielleicht die Mönche traulich necken

Mit einem Bild der Liebe, Sehnsucht wecken? –[836]

Da kam ein Hauch vom Bildner mir gesendet:

Sein klagendes Gewissen hats vollendet.


Es hat ein Mönch gelebt in jenen Tagen,

Wo glauben hieß, den Zweifelnden erschlagen;

Er aber war noch einer von den alten,

Von jenen frommen, rührenden Gestalten.


Rein, wie die Luft nach letztem Wetterstreiche,

Keusch, wie das Auge ruht auf einer Leiche,

Und alle segnend, allen mild und gut,

Wie Frühlingswärme auf den Saaten ruht,

So war sein Herz, so lebten seine Sitten,

Er kränkte niemand und verletzte keinen,

Und flossen Tränen ihm, so sinds die seinen,

Die nächtlich von der bleichen Wange glitten.


In Schreck und Mitleid zitterte sein Herz,

Frohlockten die Kreuzpilger mit der Kunde,

Wie überall die Ketzer gehn zu Grunde,

Wie jetzt die Welt so voll von Haß und Schmerz.


Ein Ungeist kam, daß er die Welt verderbe,

Die Menschheit tränkend mit dem Kelch der Leiden,

Den er gefüllt so kraftgedrang und herbe,

So rasend in den tiefsten Eingeweiden,

So reich an Qual, eh eine Stund entrückt,

Als hätt er ein Jahrhundert ausgedrückt

Und alle Bitterkeiten ohne Rest

Auf seiner blutgen Kelter ausgepreßt.


Die Kreuzgeschmückten brachen und zerstörten

So manche Burg; der Freiheit kühne Fechter

Zu Tausenden verbrannten, und sie hörten

Im Tode noch der Feinde Lustgelächter.[837]

Den Mönch erfaßt ein schauderndes Erstaunen

Bei solchen Taten, mörderischen Launen.

Ein banges Grübeln quält ihn zu ergründen:

›Ist, was ich seh, des Frevels ganze Völle?

O Mensch, wo steht die Grenze deiner Sünden?

Kommt, wer sie sucht, bis in das Herz der Hölle?‹


Die Sünde tobt in jauchzenden Gewittern,

Und vor sich selbst muß dieser Fromme zittern;

Der Name Mensch, aus welchem kein Erlösen,

Scheint ihm ein tiefer Abgrund alles Bösen,

Er lauscht in seine Brust, ob nicht verstohlen

Hier gleiche Ungeheuer Atem holen?


Mit alten Tagen geht er zu Gerichte,

Und vorwurfsvoll erschreckt ihn die Geschichte,

Wie er ein Knabe einst den Wald durchzogen

Und sah ein Vöglein heim ins Nest geflogen.


An hohen Zweigen hing die Frühlingsbrut,

Das grüne Laub hielt sie in dunkler Hut;

Doch strich der Wind, den grünen Schleier hebend,

Der Knabe sah das Nest am Wipfel schwebend.


Da hob er einen Stein und warf empor,

Zerstört hinfiel die Brut, und ihn ergriff,

Daß er es heut noch hört, der Klagepfiff,

Womit im Wald die Mutter sich verlor.


Wars nicht derselbe Drang, nur noch im kleinen,

Der dort ein Nest, hier Burgen wirft mit Steinen?

Der düstre Groll, der gern den Bau vernichtet,

Wo sich ein Glück auf Erden eingerichtet?

So klagt der Mönch und kann sichs nicht vergeben,

Daß er den Vöglein brach ihr junges Leben.[838]

Und das Zerstörte wieder aufzubauen,

Hat er das Nest im Felsen ausgehauen.

Oft sah man ihn zu seinem Bilde kehren,

Um seine stille Wehmut dran zu nähren.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 835-839.
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