Kein Frühling

[36] Und hoffst du noch von Tag zu Tag,

ob's endlich Frühling werden mag?

Es hüllt den goldnen Sonnenschein

ein grauer Wolkenschleier ein;

durch kahle Bäume braust der Nord,

kein grüner Hauch, kein Blättchen dort;

und wagt sich unterm Moose dicht

ein Blümchen kühn hervor ans Licht,

da trifft es rauh des Sturmes Kuß,

so daß es schauernd sterben muß.


Und doch – der Mai steht vor der Tür:

– Ich klopfe lang; wer öffnet mir?

Wer öffnet meiner Frühlingslust

die ganze volle Menschenbrust?

Wer öffnet meinem Sonnenschein

ein Herz, von Trug und Torheit rein?

Wer öffnet meiner Herrlichkeit

ein Auge, daß sich dran erfreut?!


Die Menschen hasten eilends fort;

durch kahle Zweige braust der Nord.

Und schlägt dein Herz im wärmern Schlag,

zu Boden drückts das Ungemach,

und tritt aus deines Hauptes Tor

ein Lichtgedanke kühn hervor,

ihn trifft des Lebens eis'ger Kuß,

so daß er schauernd sterben muß . . .


Und fragst du noch von Tag zu Tag,

wann's endlich Frühling werden mag?

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 36-37.
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