Aufruf

[233] Geist, dem wahrhaft Sein entsprüht,

Senk' dich auf mich nieder! Hauche

Ins zerfahrene Gemüth

Mir die Stärke, die ich brauche!


Nimm den Flor der Sinnenwelt

Fort von der verstörten Seele,

Daß, von deinem Licht erhellt,

Sie des Weges nicht verfehle!


Und vertilg' die letzte Spur

Jenes Bild's, um das vermessen

Die bethörte Kreatur

Dein und ihrer selbst vergessen.
[234]

Dieses Lebens bangen Streit

Wollte kühn mein Herz versöhnen

Und es suchte Ewigkeit

Bei des Staubes armen Söhnen.


Aufgeschreckt aus meinem Traum'

Sah ich, daß, was ich gefordert,

Selbst als leise Ahnung kaum

Jemals ihre Brust durchlodert.


Ihres eignen Wesens Bann

Mögen sie sich duldsam fügen!

Aber was vergänglich, kann

Nun und nimmer mir genügen.


Ein Geheimniß will der Schmerz

Mir prophetenhaft enthüllen:

Dieses schrankenlose Herz

Kann nur Gott allein erfüllen!

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 233-235.
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