Vor einem Bilde Giotto's

[240] Die Sehnsucht, die gen Himmel weis't,

Umrauscht mein Haupt mit dunkeln Schwingen,

Seh' ich auf deinem Bild den Geist

So schmerzlich mit dem Stoffe ringen.


Der Schönheit ewig reinen Strahl

Dein inn'res Aug' hatt' ihn getrunken,

Vor einem heil'gen Ideal

Warst auf die Kniee du gesunken!


Und heiße Inbrunst trieb dich an

Die himmlisch herrlichen Gestalten

Mit deines Geistes starkem Bann

Für alle Zeiten festzuhalten.
[241]

Du sahst ihn wohl den ew'gen Kranz,

Es war kein Wahn, der dich beseelte,

Der Wille war, die Kraft war ganz,

Allein, das ird'sche Werkzeug fehlte!


Versagt blieb dir's, in Götterruh'

Und Götterglanz dein Bild zu tauchen,

Nur deine Sehnsucht wußtest du,

Nur deinen Schmerz ihm einzuhauchen.


Und ob die Welt sich dann erbaut,

Nie konnte dir dein Werk genügen,

Denn Höh'res hattest du geschaut

Auf deines Geistes Wanderzügen!


O du gemahnst mich wie ein Kind,

Das, von Erwachens Weh umdüstert,

Vergeblich sich darauf besinnt,

Was ihm sein Schutzgeist zugeflüstert.

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 240-242.
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