XXVI

[554] Um vier Uhr nachmittags rückten Murats Truppen in Moskau ein. Voran ritt eine Abteilung Württemberger Husaren, dahinter folgte zu Pferd mit einer großen Suite der König von Neapel selbst.

Ungefähr in der Mitte des Arbatskaja-Platzes, nahe bei der Nikola-Jawlenny-Kirche, hielt Murat an und erwartete Nachrichten von der Vorhut über den Zustand, in dem sich die städtische Festung, »le Kremlin«, befinde.

Um Murat sammelte sich ein kleines Häufchen von Einwohnern Moskaus, die in der Stadt zurückgeblieben waren. Alle betrachteten mit scheuer Verwunderung den sonderbaren, mit Federn und Gold geschmückten Heerführer mit seinem lang herabwallenden Haar.

»Na, ist das er selbst, der ihr Zar? Er sieht ja nicht übel aus!« wurde leise geäußert.[554]

Der Dolmetscher ritt auf den Volkshaufen zu.

»Nehmt die Mützen ab ... die Mützen ab!« ermahnten sich die Leute untereinander.

Der Dolmetscher wandte sich an einen alten Hausknecht und fragte ihn, ob es noch weit bis zum Kreml sei. Der Hausknecht, der erstaunt nach der ihm fremden polnischen Klangfarbe hinhorchte und die Sprache des Dolmetschers nicht als Russisch erkannte, verstand nicht, was zu ihm gesagt wurde, und versteckte sich hinter den anderen.

Murat ritt an den Dolmetscher heran und befahl ihm, zu fragen, wo sich die russischen Truppen befänden. Einer der Russen verstand, wonach er gefragt wurde, und nun antworteten dem Dolmetscher plötzlich mehrere Stimmen zugleich. Ein französischer Offizier kam von der Vorhut zu Murat geritten und meldete, daß das Festungstor verrammelt sei und wahrscheinlich dort ein Hinterhalt liege. »Schön«, sagte Murat, und sich zu einem der Herren von der Suite wendend, gab er Befehl, vier leichte Geschütze vorrücken zu lassen und das Tor zu beschießen.

Die Artillerie kam im Trab aus der Kolonne herausgefahren, die hinter Murat marschierte, und durchquerte den Arbatskaja-Platz. Nachdem sie dann bis zum Ende der Wosdwischenka-Straße gefahren war, machte sie halt und stellte sich auf dem dortigen Platz auf. Einige französische Offiziere trafen bei den Geschützen die erforderlichen Anordnungen, stellten sie in angemessenen Abständen auf und betrachteten den Kreml durch ein Fernrohr.

Im Kreml ertönte das Vespergeläut, und diese Klänge machten die Franzosen stutzig. Sie glaubten, dies sei ein Aufruf zu den Waffen. Einige Infanteristen liefen unter Anführung eines Offiziers auf das Kutafjewskija-Tor zu. Das Tor war mit Balken und Holzplatten verstellt. Zwei Flintenschüsse ertönten[555] aus dem Tor, als der Offizier mit seinen Leuten sich ihm näherte. Der General, der bei den Kanonen hielt, rief dem Offizier einige Kommandoworte zu, und der Offizier lief mit seinen Soldaten zurück.

Es ertönten aus dem Tor noch drei Schüsse.

Einer dieser Schüsse streifte das Bein eines französischen Soldaten, und ein seltsames Geschrei einiger weniger Stimmen ließ sich hinter der Verrammelung hören. Auf den Gesichtern der Franzosen, des Generals, der Offiziere und der Soldaten, trat gleichzeitig wie auf Kommando an die Stelle des bisherigen heiteren, ruhigen Ausdrucks der energische, gespannte Ausdruck der Bereitschaft zu Kampf und Leiden. Für sie alle, vom Marschall herunter bis zum letzten Gemeinen, war dieser Ort nicht die Wosdwischenka- und die Mochowaja-Straße, das Kutafjewskija- und das Troizkija-Tor, sondern eine neue Stätte eines wahrscheinlich blutigen Kampfes. Und alle bereiteten sich auf diesen Kampf vor. Die Rufe aus dem Tor waren verstummt. Bei den Geschützen bliesen die Artilleristen die glimmenden Lunten an. Der Offizier kommandierte: »Feuer!« und zwei pfeifende Töne der Blechbüchsen ertönten nacheinander. Die Kartätschkugeln schlugen gegen die Steinquadern des Tores, die Balken und Holzplatten, und zwei Rauchwolken stiegen auf dem Platz auf.

Einige Augenblicke, nachdem das Prasseln der Kugeln an dem steinernen Kreml verstummt war, erscholl ein seltsamer Ton über den Köpfen der Franzosen. Ein gewaltiger Dohlenschwarm erhob sich über den Mauern und kreiste unter lautem Kreischen und dem Lärm vieler tausend Flügel in der Luft herum. Zugleich mit diesem Geräusch ertönte der einzelne Schrei einer menschlichen Stimme im Tor, und aus dem Rauch erschien eine Menschengestalt, ohne Mütze, in einem Kaftan. Sie hielt eine[556] Flinte in der Hand und zielte auf die Franzosen. »Feuer!« kommandierte der Artillerieoffizier zum zweitenmal, und gleichzeitig erschollen ein Flintenschuß und zwei Kanonenschüsse. Wieder verhüllte Rauch das Tor.

Hinter der Verrammelung rührte sich nichts mehr, und die französischen Infanteristen mit ihren Offizieren gingen zu dem Tor hin. Im Tor lagen drei Verwundete und vier Tote. Zwei Personen in Kaftanen waren unten an den Mauern entlang nach der Snamenka-Straße entflohen.

»Schafft das weg!« sagte ein Offizier und zeigte auf die Balken und die Leichen. Und die Franzosen warfen, nachdem sie auch die Verwundeten getötet hatten, die Leichen über die Festungsmauer hinab.

Wer diese Menschen waren, das wußte niemand. Es wurde mit Bezug auf sie nur gesagt: »Schafft das weg!«, und dann wurden sie weggeräumt und hinausgeworfen, damit sie keinen üblen Geruch verbreiteten. Nur Thiers hat ihrem Andenken einige wohlklingende Zeilen gewidmet: »Diese armseligen paar Menschen waren in die heilige Feste eingedrungen, hatten sich einiger Gewehre aus dem Arsenal bemächtigt und schossen nun (diese armseligen paar Menschen) auf die Franzosen. Einige von ihnen wurden niedergehauen, und der Kreml wurde von ihrer Gegenwart gereinigt.«

An Murat wurde zurückgemeldet, daß der Weg freigemacht sei. Die Franzosen rückten durch das Tor ein und lagerten sich auf dem Senatsplatz. Aus den Fenstern des Senatsgebäudes warfen die Soldaten Stühle auf den Platz hinaus und zündeten davon Feuer an.

Andere Abteilungen zogen durch den Kreml hindurch und quartierten sich in der Maroseika-, der Lubjanka- und der Pokrawka-Straße ein. Wieder andere schlugen ihre[557] Quartiere in der Wosdwischenka-, der Snamenka-, der Nikolskaja- und der Twerskaja-Straße auf. Überall aber glich die Art der Unterkunft der Franzosen, da sie die Hausbesitzer nicht vorfanden, nicht Quartieren, wie Truppen sie sonst in Städten haben, sondern einem Lager, nur daß dieses Lager eben in einer Stadt aufgeschlagen war.

Die französischen Soldaten rückten zwar in abgerissener Kleidung, hungrig, ermattet und auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Zahl reduziert in Moskau ein, aber doch immer noch in guter Ordnung. Sie bildeten ein ermüdetes, erschöpftes, aber noch kampffähiges, bedrohliches Heer. Aber ein Heer waren sie nur bis zu dem Augenblick, wo sie sich in die Quartiere verteilten. Sowie sie sich in die verlassenen reichen Häuser verteilt hatten, war das Heer für immer vernichtet, und was nun da war, waren weder Zivilisten noch Soldaten, sondern ein Mittelding, sogenannte Marodeure. Als fünf Wochen später dieselben Leute wieder aus Moskau auszogen, bildeten sie kein Heer mehr. Es war eine Schar Marodeure, von denen ein jeder im Tornister oder auf einem der Wagen eine Menge Sachen mit sich führte, die ihm wertvoll schienen und von denen er sich nicht trennen mochte. Ein jeder dieser Menschen sah beim Auszug aus Moskau nicht mehr wie früher sein Ziel darin, Eroberungen zu machen, sondern nur darin, das Erworbene festzuhalten. Wie ein Affe, der die Hand in den engen Hals eines Kruges gesteckt und eine Handvoll Nüsse gefaßt hat, die Faust nicht aufmacht, um das Ergriffene nicht zu verlieren, und dadurch sein Verderben herbeiführt, so mußten die Franzosen offenbar beim Auszug aus Moskau deswegen zugrunde gehen, weil sie ihren Raub mit sich schleppten und ebensowenig imstande waren, sich seiner zu entäußern, wie der Affe imstande ist, die Hand mit den Nüssen aufzumachen. Zehn Minuten nach dem Einrücken eines jeden[558] französischen Regimentes in irgendeinen Stadtteil Moskaus gab es keinen Soldaten und keinen Offizier mehr. Durch die Fenster der Häuser konnte man Leute in Militärmänteln und Militärstiefeletten sehen, die lachend durch die Zimmer gingen; in den Kellern, in den Speisekammern wirtschafteten ebensolche Leute unter den Vorräten herum; auf den Höfen öffneten ebensolche Leute die Tore der Schuppen und Ställe oder schlugen sie ein; in den Küchen zündeten sie Feuer an, kneteten mit aufgestreiften Ärmeln, buken und kochten; sie erschreckten die Frauen und Kinder, brachten sie durch Späßchen zum Lachen und liebkosten sie. Solcher Leute war überall, in den Läden und in den Häusern, eine große Menge vorhanden; aber ein Heer gab es nicht mehr.

Noch an demselben Tag ließen die obersten französischen Heerführer einen Befehl nach dem andern ergehen: es solle den Truppen verboten werden, sich durch die Stadt zu zerstreuen; es solle ihnen streng verboten werden, sich gegen die Einwohner gewalttätig zu benehmen und zu marodieren; es solle noch an diesem Abend ein allgemeiner Appell abgehalten werden; aber trotz all solcher Maßregeln ergossen sich die Leute, die vorher ein Heer gebildet hatten, nach allen Seiten in der reichen, mit Vorräten und anderen guten Dingen wohlausgestatteten, menschenleeren Stadt. Wie eine hungrige Herde über ein kahles Feld in geschlossenem Trupp dahinzieht, aber sich sogleich unaufhaltsam auflöst, sowie sie auf eine fette Weide stößt, so löste sich auch das Heer in der reichen Stadt unaufhaltsam auf.

Einwohner gab es in Moskau so gut wie keine, und die Soldaten strömten vom Kreml, in den sie zuerst eingezogen waren, ungehemmt nach allen Richtungen der Windrose auseinander und versickerten dort wie Wasser im Sand. Wenn Kavalleristen in ein Kaufmannshaus kamen, in dem die Besitzer ihre ganze Habe[559] zurückgelassen hatten, und dort nicht nur Ställe für ihre Pferde, sondern auch sonst alles reichlich fanden, so gingen sie doch noch nach nebenan, um lieber ein anderes Haus in Benutzung zu nehmen, das ihnen noch besser vorkam. Viele okkupierten mehrere Häuser zugleich und schrieben mit Kreide daran, von wem sie in Besitz genommen seien, und stritten und schlugen sich sogar darum mit anderen Abteilungen. Ohne sich ordentlich einquartiert zu haben, liefen Soldaten wieder auf die Straße, um sich die Stadt zu besehen, und rannten, da sie hörten, daß alles verlassen sei, nach solchen Orten, wo sie umsonst Kostbarkeiten erlangen konnten. Die Kommandeure gingen umher, um diesem Treiben der Soldaten zu steuern, wurden aber unwillkürlich selbst mit hineingezogen. In den Magazinen der Wagenfabriken waren eine Anzahl von Equipagen zurückgeblieben, und die Generale drängten sich dort herum und suchten sich Kaleschen und Kutschen aus. Die zurückgebliebenen Einwohner luden die höheren Offiziere ein, bei ihnen Wohnung zu nehmen, in der Hoffnung, sich dadurch vor Plünderung zu schützen. Die Reichtümer waren unermeßlich, so daß gar kein Ende abzusehen war; überall lagen um diejenigen Stadtgegenden herum, die von den Franzosen besetzt waren, noch andere, undurchsuchte, unbesetzte Gegenden, in denen es nach der Meinung der Franzosen noch mehr Reichtümer gab. Und Moskau sog in immer weiterer Ausdehnung die Franzosen in sich hinein. Wie infolge davon, daß man Wasser auf trockene Erde gießt, sowohl das Wasser als auch die trockene Erde verschwindet, so hörten infolge davon, daß das hungrige Heer in die reiche, menschenleere Stadt einrückte, sowohl das Heer als auch die reiche Stadt zu existieren auf, und das Resultat war, wie in jenem Fall Schmutz, so in diesem Feuersbrünste und Marodeurwesen.
[560]

Die Franzosen schrieben den Brand Moskaus »dem trotzigen Patriotismus Rastoptschins« zu, die Russen dem Ingrimm der Franzosen. In Wirklichkeit hat es Ursachen für den Brand Moskaus in dem Sinn, daß man für diesen Brand eine oder mehrere Personen verantwortlich machen könnte, nicht gegeben, und es konnte solche auch nicht geben. Moskau brannte ab, weil es in Verhältnisse hineingeraten war, in denen jede hölzerne Stadt abbrennen muß, ganz gleich, ob in ihr hundertdreißig schlechte Feuerspritzen vorhanden sind oder nicht. Moskau mußte abbrennen, weil die Einwohner weggezogen waren, und zwar war dies so unausbleiblich, wie ein Haufe Hobelspäne abbrennen muß, wenn mehrere Tage lang Feuerfunken auf ihn niederregnen. Eine hölzerne Stadt, in welcher trotz der Anwesenheit der Einwohner, denen die Häuser gehören, und trotz der Tätigkeit der Polizei fast täglich Brände vorkommen, muß notwendig abbrennen, wenn in ihr keine Einwohner vorhanden sind, sondern Truppen in ihr wohnen, die ihre Pfeifen rauchen, auf dem Senatsplatz von den Senatsstühlen offene Feuer anzünden und sich zweimal am Tag etwas zu essen kochen. Es brauchen nur in Friedenszeiten Truppen in den Dörfern einer bestimmten Gegend in Quartier zu liegen, so steigt sofort die Zahl der Brände in dieser Gegend. Um wieviel mehr muß die Wahrscheinlichkeit von Bränden in einer von den Einwohnern verlassenen, hölzernen Stadt steigen, in welcher ein fremdes Heer haust? Der trotzige Patriotismus Rastoptschins und der Ingrimm der Franzosen trugen daran keine Schuld. Moskau ist abgebrannt infolge der Tabakspfeifen, infolge der Küchen, infolge der offenen Feuer, infolge der Nachlässigkeit der feindlichen Soldaten, die ja in fremden Häusern sehr erklärlich war. Wenn aber auch wirklich Brandstiftungen vorkamen (was sehr zweifelhaft ist, da niemand einen Anlaß zu Brandstiftung hatte,[561] sondern eine solche Tat ihm jedenfalls Sorge und Gefahr brachte), so kann man doch die Brandstiftungen nicht für die Ursache halten, da auch ohne Brandstiftungen das Resultat das gleiche gewesen wäre.

Wie verführerisch es auch für die Franzosen war, Rastoptschin der Brutalität zu beschuldigen, oder für die Russen, den Bösewicht Bonaparte zu beschuldigen oder, in späterer Zeit, die heroische Fackel ihrem eigenen Volk in die Hand zu legen, so kann man sich doch der Einsicht nicht verschließen, daß eine solche unmittelbare Ursache des Brandes nicht vorhanden sein konnte, weil Moskau eben abbrennen mußte, wie jedes Dorf, jede Fabrik, jedes Haus abbrennen muß, wenn die Eigentümer wegziehen und es geschehen lassen, daß fremde Leute darin allein hausen und sich ihre Grütze kochen. Moskau ist von seinen Einwohnern eingeäschert worden; das ist richtig; aber nicht von denjenigen Einwohnern, die in der Stadt zurückgeblieben, sondern von denen, die fortgezogen waren. Moskau blieb, als es vom Feind besetzt war, nur deswegen nicht unversehrt, wie Berlin, Wien und andere Städte, weil seine Einwohner, statt den Franzosen Brot und Salz darzubringen und die Stadtschlüssel zu überreichen, die Stadt verlassen hatten.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 554-562.
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