|
[367] Am Abend des nächsten Tages gegen sieben Uhr erhellten plötzlich drei sich schnell folgende Blitze die hohen Mauern der Strafanstalt von Port-Arthur und mächtig rollte der Donner davon weit über Land und Meer hinaus. Es waren das Alarmschüsse, die die ganze Halbinsel Tasman zu strenger Wachsamkeit aufriefen. Die Wachtposten unterhielten dann durch Patrouillen Verbindung miteinander und die Hunde an den Laternenpfählen quer über die Landenge Eagle-Hawk-Neck wurden an noch längere Ketten gelegt. Kein Gebüsch, kein Dickicht des Waldes sollte bei der Durchsuchung durch Polizeisoldaten und Aufseher übergangen werden.
Die drei Kanonenschüsse verkündeten nämlich, daß soeben eine Flucht von Anstaltsinsassen entdeckt worden war, und sofort wurden alle Maßregeln getroffen, das Entkommen der Flüchtlinge von der Halbinsel zu verhindern.
Das Wetter war jetzt übrigens so schlecht, daß es unmöglich schien, auf dem Wasserwege zu entweichen; kein Boot hätte am Ufer anlegen, kein Schiff sich der Küste nähern können. Da die Flüchtigen die Palissaden der Landenge unbedingt nicht durchbrechen konnten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich im Walde zu verbergen, und da würden sie gewiß bald aufgespürt und in den Bagno zurückgebracht werden.
Tatsächlich wehte jetzt ein stürmischer Südwestwind, der das Wasser in der Storm-Bai und seewärts von der Halbinsel tief aufwühlte.
An dem betreffenden Abende war nach der Rückkehr der Sträflinge in die Anstalt das Fehlen von zwei Deportierten aus der fünften Rotte bemerkt worden. Als der an der Spitze des Zuges gehende Oberaufseher die Leute zurückleitete, war ihm deren Verschwinden nicht aufgefallen; die fünfte Rotte stand unter der Aufsicht Farnhams, der sich des besten Vertrauens erfreute.
Erst beim Verlesen am Abend wurde das Fehlen von zwei Sträflingen offenbar, und der Kapitän-Kommandant erhielt sofort davon Nachricht.
Da es sich um die Irländer O'Brien und Macarthy, also um zwei politische Verbrecher handelte, lag es nahe zu vermuten, daß ihre Flucht durch[367] Freunde von außerhalb unterstützt worden sei. Unter welchen Verhältnissen war diese aber vor sich gegangen?... Hatten die Flüchtigen die Insel bereits verlassen oder hielten sie sich noch an einem verabredeten Orte versteckt?... Das waren Fragen, die jetzt, wo die drei Kanonenschüsse das gesamte Personal der Halbinsel auf die Füße gebracht hatten, voraussichtlich bald ihre Lösung finden sollten.
Als Farnham am Abend vorher aus dem Hofe abgerufen worden war, hatte sich das nur um Dienstangelegenheiten gehandelt. Auf ihm lastete ja keinerlei Verdacht, und selbst als seine Abwesenheit zuerst bemerkt wurde, legte man darauf kein besonderes Gewicht. Skirtle und der Oberaufseher glaubten vielmehr, die Irländer könnten sich seiner irgendwie entledigt haben, bevor sie die Flucht ergriffen.
Daß O'Brien und Macarthy sich zu deren Ausführung eines Bootes bedient hätten, war bei dem Zustande des Meeres, wie gesagt, so gut wie unmöglich. Auf Anordnung Skirites begaben sich mehrere Aufseher sofort nach der Landenge, die übrigens schon seit den drei Kanonenschüssen strenger als gewöhnlich überwacht wurde. Hier überzeugte man sich nur, daß mit den Wachthunden alles in der Ordnung war; die übrigen Hunde aber wurden an beiden Ufern des Eagle-Hawk-Neck losgelassen.
Ein Fluchtversuch ist für die Angestellten und die Insassen einer Strafanstalt allemal ein aufregendes Ereignis. Den Deportierten von Port-Arthur blieb es natürlich auch nicht unbekannt, daß zwei ihrer Genossen, und zwar die Irländer O'Brien und Macarthy, entflohen waren. Welchen Neid mußte dieser Versuch bei den übrigen Elenden erwecken! Sie, die nachge meinem Recht verurteilt waren, hielten sich ja für nicht schlechter als die wegen politischer Vergehen Verurteilten. Jene Feniers waren einfach Gefangene, wie sie selbst, und jene hatten doch entweichen können! War es ihnen gelungen, die Halbinsel zu verlassen, die Pfahlreihe der Landenge zu durchbrechen? Oder waren sie noch im Walde verborgen und warteten da auf Hilfe von draußen?...
Was da in den Schlafsälen besprochen wurde, das bildete auch den Gegenstand des Gespräches in der Zelle der Gebrüder Kip. Die Holländer wußten aber, was den anderen unbekannt war: daß ein Schiff auf die Flüchtigen wartete, daß ein Boot sie an der Saint-Jamesspitze aufnehmen sollte. Doch ob das Boot zur bestimmten Stunde wohl auch an jener Stelle gelegen hatte?...[368]
»Nein, das ist unmöglich, erklärte Karl Kip, auf eine bezügliche Frage seines Bruders. Über der Storm-Bai rast ein wirklicher Sturm! Kein Boot könnte jetzt anlegen; kein Schiff, und wäre es selbst ein Dampfer, würde sich der Küste soweit zu nähern wagen.
– Dann, meinte Pieter Kip, werden die Unglücklichen genötigt sein, die Nacht an der Landspitze zuzubringen.
– Die Nacht und auch den nächsten Tag, Pieter, denn heute ist an ein Fortkommen nicht zu denken.
Wer weiß noch obendrein, ob sich dieser Sturm binnen vierundzwanzig Stunden schon gelegt haben wird?«
In den langen Stunden der Nacht konnte keiner der Brüder ein Auge zutun. Gespannt lauschend saßen sie da, während der Sturm an dem kleinen Fenster ihrer Zelle rüttelte, lauschend, ob nicht ein Hin- und Herlaufen von Aufsehern verriet, daß die auf ihrer Flucht eingeholten Irländer wieder in die Strafanstalt geschleppt würden.
Das Entweichen O'Briens und Macarthys an diesem Tage war nun, dank der Unterstützung durch deren Landsmann Farnham, folgendermaßen vor sich gegangen:
Die sechste Stunde war nahe herangekommen, die Rotten arbeiteten noch an dem Fällen der Bäume. Schon verlor sich der Wald etwas im Schattendunkel. Noch fünf oder sechs Minuten, und der Oberaufseher mußte das Zeichen geben, den Rückweg nach Port-Arthur wieder anzutreten.
In diesem Augenblick bemerkten die beiden Brüder, daß Farnham sich den Irländern näherte und ihnen ein Wort zuflüsterte. Darauf folgten ihm beide bis zum Rande der Lichtung, wo sie an einem Baume stehen blieben, der zum Niederlegen angezeichnet war.
Dem Oberaufseher fiel es nicht weiter auf, sie sich in dieser Richtung und in Begleitung eines Aufsehers entfernen zu sehen, und jene blieben an dieser Stelle bis zu der Zeit, wo die verschiedenen Abteilungen zum Rückmarsch nach Port-Arthur zusammentraten.
Wie gesagt, bemerkte dabei niemand, daß sich weder O'Brien noch Macarthy so wenig wie Farnham dem Zuge angeschlossen hatte. Erst bei der Verlesung im Hofe der Strafanstalt wurde ihr Fehlen ruchbar.
Bei der zunehmenden Dunkelheit hatten sich die drei Flüchtlinge ungesehen entfernen können. Um einer Patrouille aus dem Wege zu gehen, die sich eben nach dem nächsten Wachtposten begab, hatten sie sich in einem Dickicht verbergen[371] müssen. Dabei galt es auch die größte Vorsicht anzuwenden, daß sie nicht das Klirren der Ketten verriet, die O'Brien und Macarthy am Fuße und am Gürtel trugen.
Die Patrouille zog vorüber, alle drei erhoben sich; dann gelang es ihnen, zuweilen still stehend, um auf das leiseste Geräusch zu lauschen, den Rand des Steilufers zu erreichen, vor dem sich die Saint-Jamesspitze ausdehnte.
Jetzt lag schon die Finsternis über der ganzen Halbinsel Tasman, eine um so tiefere Finsternis, als schwere, vom Sturm einhergejagte Wolken den Himmel bedeckten.
Es war siebeneinhalb Uhr geworden, als die Flüchtlinge Halt machten, um die Bai zu überblicken.
»Kein Schiff zu sehen!« sagte O'Brien.
Wirklich schien die Bai gänzlich verlassen zu sein, denn ein Schiff hätte sich doch durch seine Positionslichter verraten, wenn man es bei der herrschenden Dunkelheit auch selbst nicht sehen konnte.
»Sagen Sie, Farnham, fragte Macarthy, sind wir hier auch wirklich an dem Steilufer hinter der Saint-Jamesspitze?
– Gewiß, versicherte Farnham, ich glaube aber kaum, daß ein Boot da draußen angelegt hat.«
Wie hätten sie das auch erwarten können, wo das Meer so wütend tobte, daß der durch den Sturm von den Wogenkämmen abgerissene Schaum in Fetzen über die Felsenwand flatterte.
Farnham und seine Gefährten wendeten sich jetzt nach links und kletterten nach dem Strande hinunter, um nach dem äußersten Landvorsprünge hinauszugehen.
Dieser bildete ein schmales, von Felsen umrahmtes Kap mit mehreren Wasserlachen und erstreckte sich zwei- bis dreihundert Fuß weit hinaus, wo er an einer Seite eine kleine, nach Norden offene Einbuchtung bildete. Hier hätte ein Boot ruhigeres Wasser gefunden, wenn es über die davor liegenden Klippen hinauskam, woran das Meer jetzt mit ungeheuerer Gewalt anbrandete.
Unter schwerem Kampfe gegen den stürmischen Wind gelangten die Flüchtlinge bis zur äußersten Spitze und suchten hier neben einem mächtigen Felsblocke einigen Schutz. Der Zettel Walters verlangte von ihnen, sich heute an der Saint-Jamesspitze einzufinden, und nun waren sie zur Stelle, freilich, wenigstens für diesen Abend, ohne die Hoffnung, abgeholt zu werden. Der Inhalt des[372] Zettels berücksichtigte ja auch eine solche Verzögerung, sie erinnerten sich dessen Wort für Wort:
»Hätte das Wetter ihm (dem Schiffe) nicht gestattet, die Reede von Hobart-Town zu verlassen und in die Bai einzulaufen. dann warten, bis es vor jener Spitze sichtbar wird, und vom Abend bis zum Morgen scharf darauf Acht haben.«
Was blieb denn übrig. als diesen Anordnungen zu folgen?
»Wir wollen einen Unterschlupf suchen, riet O'Brien, eine Höhlung in der Felswand, worin wir die Nacht und den nächsten Tag verbringen können.
– Doch ohne uns zu weit von der Landspitze zu entfernen, bemerkte Macarthy.
– Kommt nur mit,« sagte Farnham.
In der Voraussicht auf schlechte Witterung hatte dieser bei seinem letzten Sonntagsausgange die wilde, öde Uferstrecke schon näher besichtigt, um an dem steil aufsteigenden Ufer nach einer Höhle zu suchen, worin sich die drei Flüchtlinge bis zum Eintreffen des Bootes verbergen könnten. Farnham hatte eine solche auch in einem Winkel dicht bei der äußersten Spitze gefunden und darin einigen Vorrat an Nahrungsmitteln niedergelegt, darunter Schiffszwieback und konserviertes Fleisch, die er in Port-Arthur eingekauft hatte, und ferner einen Krug, den er aus einem nahen Bache mit Süßwasser füllte.
Bei der jetzigen Finsternis und dem Geheul des Sturmes war es nicht gerade leicht, diese Höhle wiederzufinden, und es gelang den Flüchtlingen auch erst nach Überschreitung des ganzen Strandes, der nur wenig merkbar abfiel.
»Hier... hier ist es,« sagte endlich Farnham.
In einem Augenblicke waren alle drei in der höchstens fünf bis sechs Fuß tiefen Höhle verschwunden, wo sie vor dem Sturme Schutz fanden. Nur bei Hochflut und wenn gleichzeitig ein steifer Wind auf das Land zu wehte, mochte das Wasser bis an ihren Eingang vordringen können; die Lebensmittel, die für achtundvierzig Stunden bequem ausreichen mußten, fand Farnham an ihrem Platze.
Kaum waren seine beiden Gefährten und er in die Höhle geschlüpft, als ein dreifacher Kanonendonner zu ihnen herüberdröhnte, der selbst das Heulen des Sturmes übertraf.
Er kam von der Alarmkanone der Strafanstalt.
»Unsere Flucht ist entdeckt!« rief Macarthy.
– Ja, man weiß jetzt dort, daß wir entwichen sind, setzte O'Brien hinzu.[373]
– Doch noch nicht wieder eingefangen, sagte Farnham.
– Und wir werden uns auch nicht fangen lassen!« erklärte O'Brien.
Zunächst war es nötig, daß die beiden Irländer sich ihrer Ketten entledigten, für den Fall, daß sie nochmals fliehen müßten. Farnham hatte sich dazu schon mit einer Feile versorgt, die nun dazu diente, ein Glied am Fuße zu lösen.
Nach achtjährigem Schmachten im Bagno waren jetzt O'Brien und Macarthy zum ersten Male nicht mehr mit der schweren Fessel des Galeerensträflings belastet.
Es lag auf der Hand, daß in dieser Nacht kein Boot irgendwo an der Küste landen konnte, und wie hätte es auch ein Schiff wagen sollen, sich der gefährlichen Klippenreihe zu nähern, die sich vom Hintergrunde der Storm-Bai bis zum Kap Pillar ausdehnt?
Die Erwartung der Flüchtlinge war jedoch so lebhaft erregt, daß diese die Umgebung der Landspitze dennoch unausgesetzt im Auge behielten. Da sie jetzt niemand sehen konnte, verließen sie auch einigemal ihren Schlupfwinkel und gingen, nach den Lichtern eines Schiffes spähend, am Strande hin und her.
Dann nach der Höhle zurückgekehrt, besprachen sie ihre Lage, die sich, wenn es wieder hell wurde, höchst gefährlich gestalten mußte.
Nach Durchstreifung der nächsten Umgebung von Port-Arthur und nach Absuchung des Waldes bis zur Landenge, dehnten die Verfolger ihre Nachforschungen jedenfalls nach der Küste hin aus, und die Hunde, die ja abgerichtet waren, die Fährten der Sträflinge aufzuspüren, entdeckten dann gewiß die kleine Höhle, worin sich Farnham und seine Genossen zusammengedrängt hatten.
Während sie noch alles bedachten, was ihnen am nächsten Tage drohte, erwähnte O'Brien auch einmal den Namen der Gebrüder Kip, da er sich des Dienstes erinnerte, den die beiden Holländer ihm geleistet hatten.
»Nein, sagte er, nein... das sind keine Meuchelmörder!... Sie haben es geleugnet... ich glaube ihrem Worte!
– Und es sind großherzige Männer, setzte Macarthy hinzu. Wenn sie uns verrieten, hätten sie wohl erwarten dürfen, daß das ihnen hoch angerechnet würde... sie haben es aber nicht getan!
– Von der Angelegenheit der Ermordung des Kapitäns Gibson habe ich in Hobart-Town wiederholt reden hören, bemerkte Farnham, dort gibt es[374] mehrere Personen, die sich für die Gebrüder Kip warm interessieren, und dennoch glaubt man nicht, daß sie unschuldig verurteilt worden seien.
– Sie sind aber unschuldig!... Ganz bestimmt! behauptete O'Brien. Und wenn ich jetzt daran denke, mich geweigert zu haben, ihnen die Hand zu drücken! Ach, die armen Menschen!... Nein, sie sind nicht schuldig, und dennoch müssen sie im Bagno von Port-Arthur mitten unter dem Abschaum der Verbrecherwelt schmachten... ebenso wie wir da geschmachtet haben... Wir, nun ja, wir waren hier wegen des Versuches, unser Vaterland den Krallen Englands zu entreißen, und wir hatten draußen Freunde, die sich um unsere Befreiung bemühten. Karl und Pieter Kip aber, die bleiben zeitlebens da eingekerkert!... O, wie undankbar von mir! Als sie uns aufsuchten und uns das von ihnen gefundene Blättchen übergaben, da hätte ich zu ihnen sagen müssen: »Laßt uns zusammen entfliehen! Unsere Landsleute werden euch als Brüder aufnehmen!«
Langsam verstrich die regnerische, eisige Nacht. Die Flüchtlinge litten von der Kälte, und dennoch erwarteten sie den Tag nur mit größter Besorgnis. Ein Gebell, das ihnen zuweilen ans Ohr schlug, verriet, daß die Hunde auf der Halbinsel losgelassen worden waren. Bei ihrer Gewohnheit, die Sträflinge schon aus der Ferne zu wittern und die Tracht der Anstaltsinsassen zu erkennen, entdeckten die Tiere früher oder später jedenfalls die Felsenhöhle, worin sich Farnham und seine Gefährten verbargen.
Kurz nach Mitternacht war der Strand von der zunehmenden Flut bedeckt, da der Weststurm das Wasser hierher drängte. Das Meer stieg sogar so hoch, daß es den unteren Teil des Steilufers bespülte. Eine halbe Stunde lang standen die Flüchtlinge fast bis zum Knie im Wasser. Zum Glück schwoll dieses nicht noch weiter an, und der Ebbestrom führte es trotz der Fortdauer des Sturmes allmählich wieder zurück.
Kurz vor Tagesanbruch zeigte der Sturm aber Neigung zur Abnahme. Der Wind lief nach Norden um, und die Bai wurde damit etwas leichter befahrbar. Farnham, O'Brien und Macarthy durften also hoffen, daß der Wogengang sich mildern werde. Als es hell wurde, war die Besserung schon sehr deutlich merkbar. Brandeten die Wellen auch noch an der Außenseite der Klippen, so hätte schon jetzt doch ein Boot an der Rückseite der Saint-Jamesspitze anlegen können.
Leider mußte der Abend abgewartet werden, ehe sich die Flüchtlinge wieder herauswagen konnten.[375]
Farnham machte aus den Lebensmitteln, dem Zwieback und dem Dörrfleische, die er hierher geschafft hatte, drei gleiche Teile. Da der kleine Vorrat nicht erneuert werden konnte, sollte er sparsam verbraucht werden, weil ja auch eine Verzögerung von mehr als achtundvierzig Stunden nicht ausgeschlossen war. Süßwasser konnte am Abend leicht wieder aus dem Bache in der Nähe geholt werden.
Ein Teil des frühen Morgens verstrich, ohne daß sich irgend etwas Auffälliges ereignete. Der Sturm legte sich gänzlich und zwischen den letzten Wolken des Osthimmels stieg die Sonne heraus.
»Jetzt, meinte O'Brien, wird das Schiff, das auf der Reede von Hobart-Town liegt, in die Storm-Bai einfahren können und gegen Abend kann es in der Nähe der Halbinsel sein.
– Man wird aber, antwortete Macarthy, auch die Küste desto sorgsamer überwachen.
– Nur ruhig Blut, mahnte O'Brien. In Port-Arthur weiß kein Mensch, daß von Amerika ein Schiff gekommen ist, um uns an Bord zu nehmen, ebensowenig, daß wir hierher, nach der Saint-Jamesspitze, bestellt worden sind. Was ergibt sich daraus? Doch nur, daß man glaubt, wir wären im Walde verborgen, und wenigstens die ersten Tage wird man dort eher als an der Küste nach uns suchen.
– Wie mag es denn mit Walter stehen? bemerkte da Farnham. Vor zwei Tagen, am Sonnabend, haben wir ihn noch auf der nach Port-Arthur führenden Straße gesehen. Ob er wohl nach Hobart-Town. zurückgekehrt ist?... Höchst wahrscheinlich. Er wird sich an Bord des Dampfers begeben und dem Kapitän mitgeteilt haben, daß wir am Montag Abend an der Saint-Jamesspitze sein würden.
– Ja, sicherlich, meinte Macarthy, denn wenn Walter nicht nach Hobart-Town zurückgekehrt wäre, hätte er uns in der vergangenen Nacht aufgesucht. Bei der Finsternis wäre es ihm ja ein Leichtes gewesen, den Patrouillen auszuweichen.
– Das glaube ich auch, stimmte O'Brien zu. Walter wird mit einem der Dampfboote, die auf der Bai verkehren, Port-Arthur schon am Sonntag verlassen haben.
– Und wir dürfen annehmen, setzte Farnham hinzu, daß er die Abfahrt des Dampfers möglichst beschleunigen wird. Gedulden wir uns also noch ein wenig, sobald es dunkel wird, stößt das Boot jedenfalls an die Küste.[376]
– Gott gebe es!« antwortete O'Brien.
Gegen ein Uhr Nachmittag wurde es in der Nähe lebhaft. Oben an der Kante des Steilufers, hundert Fuß über der Höhle, die die Flüchtlinge verbarg, ertönte ein Gewirr von Stimmen. Gleichzeitig schlugen die Hunde an, die von ihren Herren offenbar gehetzt wurden.
»Die Polizeisoldaten!... Die Hunde! rief Farnham. Jetzt droht uns Gefahr!«
In der Tat war ja zu befürchten, daß die Tiere nach dem Strande herunterkämen, wohin ihnen dann jedenfalls die Aufseher und Polizisten auf[377] demselben Wege nachfolgten, den Farnham am Tage vorher benutzt hatte. Dann schnüffelten die Doggen hier umher, ihr Instinkt würde sie nach dem Fuße des Steilufers treiben und zuletzt entdeckten sie zweifellos auch die Höhle...
Welchen Widerstand konnten dann O'Brien, Macarthy und Farnham, die keine Waffen besaßen, einem Dutzend bewaffneter Männer entgegensetzen?... Sie wären doch kurzer Hand überwältigt und in die Strafanstalt zurückgetrieben worden, und welches Los sie da erwartete, darüber konnten sie nicht im Zweifel sein: die doppelte Kette und der finstere Kerker für O'Brien und Macarthy... die Todesstrafe für Farnham, da er ihre Flucht begünstigt hatte.
Alle drei verhielten sich in der Höhle regungslos still. Ungesehen daraus wegzugehen, war ganz unmöglich. Wohin hätten sie sich von diesen letzten Felsgebilden der Landspitze aus auch flüchten sollen?... Um nicht in den Bagno zurückzukommen, blieb ihnen nichts anderes mehr übrig, als sich ins Meer zu stürzen... Ja, alles lieber... nur nicht in die Hände der Häscher fallen!
Inzwischen kamen die Stimmen noch näher. Sie verstanden schon einzelne Worte, die über ihrem Schlupfwinkel gewechselt wurden, und hörten die Rufe derer, die sie verfolgten, ebenso wie das wütende Bellen der Doggen.
»Hierher!... Dorthin! ertönte es einmal ums andere.
– Laßt doch die Hunde frei, rief ein dritter, der Strand hier muß abgesucht werden, ehe wir umkehren!
– Was sollten sie denn hier gemacht haben? antwortete sofort der gewalttätigrohe Führer der Abteilung, den Farnham an der Stimme erkannte. Durch Schwimmen haben sie sich nicht retten können, wir müssen unsere Nachforschungen im Walde wieder aufnehmen!«
O'Brien ergriff die Hand seiner Gefährten. Nach diesem Einwurf ihres Führers konnte man erwarten, daß die Verfolger sich entfernen würden. Da rief aber noch einer von diesen:
»Nun, nachsehen könnten wir doch einmal!... Wir wollen hier den Pfad hinuntersteigen, der nach dem Strande führt. Wer weiß, ob die Drei sich nicht in irgend einem Loche versteckt halten!«
Die Drei?... Man nahm in Port-Arthur also als ausgemacht an, daß Farnham, der Helfer bei diesem Fluchtversuche, auch bei den Irländern sei.
Waren die Worte der Leute jetzt weniger gut verständlich – ein Beweis, daß sich die Verfolger dem herunter führenden Wege zugewendet hatten – so ertönte das Heulen und Bellen der Hunde in um so größerer Nähe.[378]
Ein glücklicher Umstand verhinderte aber vielleicht die Entdeckung der Flüchtlinge. Das augenblicklich noch ziemlich hohe Meer überflutete den Strand bis zum Fuße des Steilufers und seine äußersten Wellen rollten bis zum Eingange der Höhle. Diesen selbst konnte nur sehen, wer um die Felsmasse herumging. Von der Saint-Jamesspitze selbst lagen die äußersten Blöcke noch unter dem Schaum der Wellen. Die Ebbeströmung mußte wenigstens noch zwei Stunden abgewartet werden, ehe der Strand wieder gangbar wurde. Es war aber unwahrscheinlich, daß die Verfolger hier so lange verweilen würden, statt sich einer mehr Erfolg versprechenden Fährte zuzuwenden.
Die Hunde bellten inzwischen noch lauter, ihr Instinkt trieb sie offenbar längs der Uferwand hin. Einer davon stürzte sich in den Strudel der Wellen, doch folgte keiner der anderen seinem Beispiele.
Eben jetzt gab auch der Oberaufseher Befehl, den nach unten führenden Weg wieder herauf zu kommen, und bald verminderte sich der Lärm, das Gebell wurde schwächer und die Stimme der Verfolger unverständlich. Nur das Meer schlug noch laut gurgelnd an die felsige Uferwand an.
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
|
Buchempfehlung
Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro