Hainlins Heimkehr

[469] Als unser Paar wieder in der Charlottenstraße hauste, hatte es zunächst das Bedürfnis, sich gründlich auszuruhn von all den starken Eindrücken der Fremde. Dann begab sich Hainlin nach Grünheide. Burdinski, der ihn gärtnerisch vertreten hatte, war unzufrieden mit dem regenlosen Sommerwetter, das ihn gezwungen hatte, Tag für Tag stundenlang die Gießkanne anzuwenden. Als Marianka einmal herauskam, sagte sie spitzig: »Na, weißt du, Schatzl, in diesem Sande wird deine Gärtnerei nicht gerade erfolgreich sein. Die Mark gehört also wohl auch zu den unfruchtbaren Hexen – aber ein bissel gern hast du sie doch – ein Lückenbüßer ist sie für deine Heimat – wie ich Lückenbüßer bin für dein Rosel.«

Als abermals ein Sommer gekommen und wieder von Reisen die Rede war, meinte Hainlin: »Du wolltest ja wohl zur Riviera?« – Marianka sah ihn prüfend an und lächelte: »Ist das dein Ernst? Zur heißen Zeit geht man nicht an die Riviera. Aber du willst wohl andeuten, daß du gern einen Abstecher ins Ländle machen würdest. Na, warum denn nicht? Besuche deine Jugendflamme! Dabei ist natürlich die zweite Flamme überflüssig. Eigentlich bin ich sogar schon deine dritte – denn gesteh', die Marga mit den drei Kindern, die dir zur Hochzeit gratuliert hat, kommt auch in Betracht. Du errötest? Ich bin nicht eifersüchtig! Wenigstens nicht auf[470] Frau Rosel Bolkendorf. Bloß daß mir eure Innigkeiten nicht gerade erbaulich wären. Du verstehst – was du nicht willst, daß man dir tu – Gesetzt, ich wollte auch schön tun mit einem Dritten – na, siehst du! Also, Schatzl, reise allein nach Tübingen! Bleib ein paar Wochen! Ich verspreche dir, mich nicht zu langweilen.« – Fast beschämt von Mariankas Großmut, küßte er ihre Hand und sagte, so wolle er denn reisen – es werde, wie er fühle, ein Abschied von seiner Jugend sein.


*


Als der Zug in den Bahnhof Tübingen einlief, sah Hainlin, aus dem Fenster gebeugt, drei Frauen – sie winkten mit Tüchern und Sonnenschirmen. Er griff nach seinem Koffer, vom Zuge, der noch im Fahren war, sprang er ab und stürzte in Rosels Arme. Er fühlte, daß ihre Gestalt die Kraft und Ueppigkeit von damals verloren hatte. Ihr Kuß hatte etwas Unbeholfenes, ihre Hand bebte in der seinen, ihr Gesicht war eine angewelkte Blume. Bekümmert sah er sie an und küßte nochmals. Ihre Lippen waren mutlos, und er bemerkte, eine Locke an ihrer Schläfe war weiß.

Einen anderen Eindruck machte Rosels Mutter. Ihr rundes Gesicht blühte, das dunkelblonde Haar zeigte noch kein Ergrauen – diese Matrone war fast jugendlich. Und Hainlin wandte sich an die dritte Gestalt: Zärtlich strahlte Berta Schneckle, das schmächtige Gesichtchen rosig überhaucht. Mit Berta wisperte ein Knabe, als gehöre er zur Gruppe. »Ha freile!« sagte Berta, »warum ziehscht dei Käpple net? Gib dem Herrn Kandidate die Hand!« Das tat der Knabe unter artiger Verbeugung. »Ei, wer ischt denn dees?« fragte Hainlin – und gab selber die Antwort: »Klein-Wendelin, gelt?« Aus Tübinger Briefen war ihm bekannt, daß Pias und Ulis Kind, Wendelin getauft, von Schneckles in Pflege genommen war. In plötzlicher Zärtlichkeit[471] nahm Hainlin den Kopf des Knaben zwischen seine Hände. Das hübsche Gesicht erinnerte an Pia, besonders durch die Rehaugen, aber auch ein Zug von Uli war darin: seine strahlende Keckheit.

Nun setzte sich die Gruppe in Bewegung. Hainlin führte Frau Funk und hatte Rosel den linken Arm gereicht – scheu hielt sie ihn gefaßt. Da waren nun die Alleen und Rasenflächen, hinterm rauschenden Flusse die gute alte Stadt, das Stift, die ragende Burg. Und da war das traute Haus. Anerkennend nickte Hainlin, als er das Messingschild an der Haustür las: »Berta Schneckle, geprüfte Krankenpflegerin«. – »Ja!« erklärte Frau Schneckle stolz – »guete Praxis hat sie scho!«

In der Wohnung war alles beim alten, jedenfalls in der Stube, die Hainlin früher bewohnt hatte und auch jetzt bezog. Als er das bekränzte Plakat »Willkommen« gelobt hatte und den Rosenstrauß auf dem weiß gedeckten Tisch, öffnete er die Tür zum Altan. Drunten blank der Neckar, jenseits hochwipflig die Platanenallee, herüber lugte das Blau der Berge. Rosel stand an Hainlins Seite und deutete auf das Haus am Neckarbad: »In der Laube sitz i heut abend ond hör zu, wenn du hier obe flöte tuscht, gelt? Ond morge kommscht zu meim Mann. Heut tut er sich net sonderlich wohl fühle – ond i möcht ihn net lang allei lasse.«

Hainlin war betroffen – er hatte sich gedacht, den ganzen Nachmittag und Abend mit Rosel zu verleben, überhaupt fast immer mit ihr zusammen zu sein, die paar Tage, die er in Tübingen bleiben wollte. Und nun ging sie, nachdem sie ihn kaum begrüßt hatte. Etwas Frostiges hatte ihn angehaucht, er stand traurig.

Mitfühlend streichelte sie seine Hand, und in aufwallender Liebe schlang er den Arm um sie. Unter sanftem Lächeln war sie ein Weilchen seinem Kosen ergeben. Dann griff sie nach[472] seiner Hand und führte ihn zur Stube. Hier hatten die anderen Frauen einen Gugelhupfkuchen aufgetischt und spendeten aus der mächtigen Kanne duftenden Kaffee. Im Plaudern kam Gemütlichkeit zur Geltung. Rosel aber und ihre Mutter hielten nicht lange aus. »Onser arms Heinerle hat uns nötik,« entschuldigte Frau Funk.

»Will's denn gar net besser mit ihm werde?« fragte Hainlin. Frau Funk schüttelte seufzend den Kopf.

Draußen klopfte jemand – es war der Briefträger. Der Brief, den er brachte, war von Marianka. Ihn überfliegend, las Hainlin: »Als ich mich gestern abend legte und Dein Bett sah, erschrak ich. Mich überwältigte die Sorge, ich könne Dich verlieren, weil Du ja heimkehrst zu Deiner ersten Liebe ... on revient toujours ... Jetzt bist Du bei ihr – nach der Du Heimweh hattest an meiner Seite. Und wenn Ihr in Tübingen von gemeinsamen Jugenderlebnissen plaudert, fließen Eure Blicke ineinander. Ich aber, in meiner Verlassenheit, was fange ich an? Ich beiße die Zähne ins Taschentuch – habe eigentlich jetzt keinen Menschen, dem ich mich anvertrauen könnte. Komme mir so haltlos vor wie ein dürres Blatt.«


*


Als Hainlin andern Tages am Stift vorbeikam, begegnete ihm eine Bürgersfrau, die ihn von früher kannte. »Grieß Goot, Herr Kandidat! Au wieder da? Wollet Sie zur Frau Bolkedorf? Auf 'm Markt ischt die. Und ihr Mueter, die Frau Funk, ischt graad die Bursagass' nunter.«

Durch diese Mitteilung ließ sich Hainlin nicht abhalten, schon jetzt Bolkendorfs Heim aufzusuchen. In die Wohnung freilich mochte er nicht gleich gehn – mit Bolkendorf allein zu sein, hätte er gern vermieden. In der Gartenlaube wollte er Rosels Rückkunft abwarten.[473]

Es rührte ihn, den Garten genau so wiederzufinden, wie er ihn kannte. Rosen blühten und Rittersporn, es strotzten die Beete von Endiviensalat. In der Laube, die wilder Wein umsponnen hielt, war's dunkel und kühl; hier am Tische, wo Hainlin einst gesessen hatte, nahm er Platz – hinter ihm rauschte der Neckar.

Nicht lange, so vernahm er Stimmen vom Hause her. Jemand sagte zu Rosel, der Herr Kandidat sei im Garten. Glückselig lächelte Hainlin bei der Vorstellung, Rosel werde nun, ihn suchend, in die Laube eintreten – dann wolle er sie umfangen.

Und richtig, es nahten hurtige Schritte – sie kam, als errate sie, wo er sei. Ihre schlanke Gestalt trat ein, sich bückend unter den Ranken, und schon hatte er die Arme um sie geschlungen. »Jergle! Oh du!« So hing sie an seinem Halse – »Rosel, mein Lieb!« Sie küßten sich. Auge fand das Auge – Mund drückte sich auf Mund. Dann hörten sie vom Haus her den Kanarienvogel schmettern, den Sommerwind im Laube lispeln, den Fluß raunen ...

Auf einmal dumpf ein Stöhnen – dann Schluchzen ... Rosel war aufgesprungen und zur Laube hinaus geschlüpft. Hainlin folgte und sah: Hinter der Laube Bolkendorf im Fahrstuhl, – dicht an der Laube, nur das Blättergewebe hatte ihn getrennt vom kosenden Paar. So war er schon gesessen, ehe Hainlin gekommen war – hatte sie belauscht.

Der lahme Mann mit dem Graubart hielt beide Hände vors Gesicht geschlagen und zuckte in krampfhaftem Weinen. Schmerzlich bestürzt stand Rosel bei ihm und suchte zu beschwichtigen – seine Locken streichelte sie: »Heinerle! Sei net bös! Dr Jerg ond i sind wie Brueder ond Schweschter!« Nun tat er die Hände weg – betränt blickten die blauen Augen zu Rosel auf[474] – kein Vorwurf war's, ein Flehen um Mitleid: »Bös? Das bin ich nicht! Aber so hilflos, ach so verlassen!«

Und an Hainlin wandte er sich mit einem langen Blick, der eine stumme Sprache hatte. Argwöhnisches Spähen war darin. »Laß mich allein mit ihm!« raunte er Rosel zu. – »Ja!« nickte sie und atmete tief – »redet mitsammen!«

Sie ging – leidvoll blickten sich die Männer an – heiser begann Bolkendorf: »Sind Sie gekommen, Herr Hainlin, mir Rosel abspenstig zu machen? Ich kann's kaum glauben! Rosel hat so viel Gutes von Ihnen erzählt – sie behauptet, man müsse Sie lieben. Drum – wenn Sie so sind – nicht wahr? Dann darf ich ruhig sein!« So bettelte der Gelähmte.

Hainlin blickte starr vor sich hin, und gequält kam die Antwort: »Herr Bolkendorf! Viel ließe sich hier sagen – aber was sind Worte! Sie drücken aus, was die Leute meinen, ach, die Leute! Ich aber und Rosel – was wir erlebt haben von Kindheit an – richtiger noch: was Rosel und ich mitsammen sind – das ...« Seine Lippen bebten – ratlos zuckte er die Achseln.

Angstvoll blickte Bolkendorf und nickte langsam: »Ich weiß – verstehe! Hier ist auch nichts zu machen, als daß wir unser bissel Verstand zusammennehmen, nicht wahr? Also überlegen Sie: Rosel ist nun mal meine Frau. Vielleicht bedauert sie's manchmal – vielleicht hätt' ich gescheiter getan, ihre Mutter zu heiraten – aber – sie ist nun mal meine Frau. Bedenken Sie doch, Herr Hainlin: In der Ehe mit mir hat Rosel Halt gehabt und hat ihn noch. Ein Baum ist bald umgehaun, aber Jahre waren nötig, ihn aus dem Keim aufzuziehn. Ist er gebrochen, so gibt's keine Heilung mehr. Das gilt übrigens nicht bloß für meine Ehe, zugleich für Ihre. Sie sind, wie ich[475] höre, sogar glücklich verheiratet. Der Ring an Ihrem Finger bestätigt es mit seinem Gefunkel. Nun denn, halten Sie fest, was Sie haben – und lassen Sie auch mich in meinem Besitz! Ich würde sonst völlig verarmen, wäre geradezu vernichtet – vernichtet! Rosel ist mir alles, alles!«

Bei dem klagenden Geständnis brach Bolkendorf von neuem in Tränen aus. Es war gut, daß jetzt Frau Funk erschien und Rosel. Mitleidig bemühten sich die Frauen um den Gelähmten. Er beruhigte sich und raunte Frau Funk etwas zu. Ein wehmütiges Grüßen hatten die beiden Männer für einander – dann – rollte Frau Funk den Wagen des Gelähmten weg, und Hainlin stand mit Rosel allein.

Traurig blickte sie zu ihm auf. Er wußte nichts zu sagen. Bis sie endlich die bange Starrheit brach: »Solle mr net e bißle umhergehe im Garte?« Sie wandelten zwischen den Beeten. Teilnahmlos sahen sie hin – als wollten sie bloß die öde Zeit hinbringen.

Gequält brachte Hainlin heraus: »Jetzt – möcht i bloß noch Ulis Grab besuche – dann wär hier mei Sach erledikt.« – Rosel hauchte: »Auch i – gang heut auf'n Friedhof.« –

So findet mein Stürmen auf den Glasberg ein kläglich Ende! dachte Hainlin – abgeglitten bin ich – wie die andern – nur daß ich noch ein wenig Anhalt habe – in einen Riß der Glasfläche krall' ich mich ein. Aber bald stürz' ich – in den Höllengrund!


*


Abends war's – die Grabzypresse rauschte.

Traurig saß ein Paar

Zwischen Hügeln. Was es sann, belauschte

Gott allein und rings der Toten Schar.
[476]

An des Todes dornumwobnen Toren

Betteln wir um Ruh –

Unsre Heimat Eden ging verloren,

Seit wir zwei geworden: Ich und Du.


Gott verband uns. Schon als Kinder träumten

Wir uns Mann und Frau.

Doch die Trennung kam. Was wir versäumten,

Ist dahin – die Locke wird nun grau.


Zu den Toten gehn wir – die gestatten

Unsre Herzensglut.

Aber gramvoll grübeln unsre Gatten,

Und sie löschten gern wie Wasserflut.


Ist kein Ausweg? – Sieh den Zeisig hüpfen

Dort im Eibenstrauch!

Durch die Lücken – lockt er – lerne schlüpfen!

Wo ein Käfig, ist ein Türlein auch.


Vogel, schweig! Dein Türlein heißt Verschulden.

Treulos sein tut weh.

Lieb' ist Wohltat! Lieb' ist keusch im Dulden –

Sprießt wie Märzenglöcklein unterm Schnee.


Einst – wenn unsre Gatten beide sterben –

Mag es schuldlos sein,

Daß wir noch ein Glück, ein spätes, erben –

Unser Ehepriester heißt Freund Hain ...


Doch wir träumen! Unsre Gatten leben!

Küssen wir die Hand,

Die uns heilsam strenge Zucht gegeben

Und des Vögleins Lockung überwand.
[477]

Laß uns treu den Gatten angehören!

Zwar leibeigen nicht –

Seelen dürfen lieben! Nie kann stören

Einer Liebe Licht das andre Licht.


Schwarze Dünste – in der Abendsonne

Sind sie Purpurglanz.

Licht der Gottesliebe! deine Wonne

Strömt durchs All – und jeder hat sie ganz.


Laß uns, Engel, Wang an Wange lehnen,

Groß ins Leuchten schaun!

Und im Schauen ströme unser Sehnen

Hier von Grüften heim zu Edens Aun!


Fern zwei Rosenwölkchen – sie zerrinnen

In das Goldmeer weit –

Hauchgleich weben sie für unser Minnen

Weltentrückt das späte Hochzeitskleid.


Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 469-478.
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