[198] Angriffspunkt der Kraft nennt man in der Lehre von der Biegungsfestigkeit den Punkt, in dem die Mittelkraft der außerhalb eines Balkenquerschnitts angreifenden Kräfte den Querschnitt schneidet.
Zerlegt man die Mittelkraft in diesem Punkte in eine normale und eine transversale Seitenkraft, so erzeugt jene vorwiegend Zug- und Druck-, diese vorwiegend Scherspannungen. In der Navierschen Biegungstheorie wird angenommen, daß die spezifischen Zug- und Druckspannungen dem Abstand von einer geraden Linie, der Nullinie oder neutralen Linie proportional seien. In P die Normalkraft, F der Inhalt der Querschnittsfläche, NN die Nullinie, σy die spezifische Spannung im Flächenelemente ΔF und σs diejenige im Schwerpunkte S, so folgt
σy : σs = y : ys, ΔP = σy · ΔF = σs · y · ΔF/ys,
P = σy · ∑(y · ΔF)/ys = σs · ΔF, σs = P/F.
Da ΔP dem statischen Momente des Flächenelements, bezogen auf die Nullinie, proportional ist, so fällt der Angriffspunkt der Kraft P mit dem Mittelpunkte dieser statischen Momente zusammen. Dieser Mittelpunkt bildet nach der Theorie der Trägheitsellipse (s.d.) mit der Nullinie ein Antipolarsystem, dessen Ordnungskurve die Zentralellipse ist. Daraus ergibt sich der Satz: Der Angriffspunkt der Kraft ist der Antipol der Nullinie und die Nullinie ist die Antipolare des Angriffspunktes in bezug auf die Zentralellipse des Querschnitts. Mit Hilfe dieses Satzes und der für den Schwerpunkt gefundenen Spannung läßt sich die Spannung für jeden beliebigen Punkt des Querschnitts finden. Greift die Kraft im Schwerpunkt der Querschnittsfläche an, so fällt die Nullinie ins Unendliche. Dann sind die Spannungen alle gleich groß und gleich der im Schwerpunkte. Der Querschnitt wird ausschließlich auf Zug oder auf Druck in Anspruch genommen. Läuft die Mittelkraft der außerhalb des Querschnitts angreifenden Kräfte parallel zum Querschnitt oder ist sie ein Kräftepaar (s.d.), so fällt der Angriffspunkt ins Unendliche. In diesem Falle wird der Querschnitt auf reine Biegung in Anspruch genommen. Die Nullinie geht durch den Schwerpunkt und ist zur Linie, in der die Kraftebene die Querschnittsfläche schneidet, konjugiert.
(W. Ritter) Roth.
Lueger-1904: Angriffspunkt [1]