Verrücktheit

[98] Verrücktheit (Paranoia), eine Geisteskrankheit, über deren Abgrenzung in wissenschaftlicher Beziehung noch keine Einmütigkeit herrscht. Als primäre V. faßt man eine eigenartige sehr große und äußerst mannigfache Symptomengruppe zusammen, die für sich allein vorkommen, sich aber auch sekundär an andre Geisteskrankheiten (Manie, Melancholie, Epilepsie) anschließen kann. Die primäre V. befällt zumeist Personen, in deren Familie Geistes- oder sonstige belastende Krankheiten erblich sind. Die hervorstechendsten Symptome sind Halluzinationen und Wahnideen, die, mit den allerverschiedensten, scheinbar logischen Gedankenkombinationen verbunden, zu ganzen Komplexen irriger Vorstellungen verarbeitet werden. Beide Symptome können auch getrennt vorkommen, oder die Wahnideen entwickeln sich erst infolge der Sinnestäuschungen. Die Entwickelung der einfachen chronischen V. erfolgt sehr langsam. Ganz allmählich »verrückt« sich das Verhältnis des Ich zu dem der Außenwelt, falsche Beziehungsbegriffe werden gebildet und die Wahnidee im Sinne des Größenwahns oder der Verfolgung stellt sich ein. In andern Fällen ist der Größenwahn, Glaube an hohe Abkunft, an den Besitz unermeßlicher Reichtümer, an ungewöhnliche Fähigkeiten mit Sinnestäuschungen, Visionen, Hören von Stimmen der Gottheit, die sich in leuchtenden Sternen offenbart und Begnadigung verkündet,[98] oft aber auch mit peinlichen Vorstellungen (Verkündigung des Todesurteils, Androhung ewiger Strafen) verknüpft, so daß die Kranken nicht selten gegen ihre Umgebung aggressiv werden oder auch Hand an ihr eignes Leben legen. Die V. befällt meist junge Individuen von 17–25 Jahren oder ältere, namentlich Frauen, im 40.–50. Lebensjahr, geht manchmal in Genesung über, ist aber in den meisten Fällen unheilbar. In Gefängnissen wird die Entwickelung der V. bei dazu disponierten Individuen durch die Isolierhaft stark begünstigt. Die Behandlung muß der Leitung eines Irrenarztes und einer Irrenanstalt anvertraut werden, da in der Privatbehandlung die größten Gefahren für den Kranken und die Umgebung entstehen können.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 98-99.
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