Visĭon

[193] Visĭon (lat.), Sinnestäuschung im Bereich der Gesichtssphäre, wie sie bei vielen Geisteskrankheiten, z. B. der halluzinatorischen Verrücktheit, dem Alkoholdelirium etc. vorkommt. Ebenso neigen Hysterische und Epileptische zu bunten, farbenprächtigen, verzückten Visionen. Speziell nennt man Visionen die Sinnestäuschungen religiösen Inhalts, Erscheinungen von meist glänzenden Gestalten, die in das Übernatürliche und Übersinnliche hineinragen, wie sie z. B. oft von Gefangenen, die lange Zeit in Einzelhaft sitzen, geschildert, aber auch von ganzen Gruppen erlebt werden, und wo sich Gesichtshalluzinationen meist mit Gehörshalluzinationen verbinden. Die Häufigkeit der Visionen auf religiösem Gebiet erklärt sich einerseits daraus, daß zartbesaitete, reizbare Gemüter ein besonders günstiger Boden für religiöse Eindrücke sind, anderseits daraus, daß erhabene, außergewöhnliche seelische Erfahrungen, wie sie gerade die Religion bietet, das Nervenleben leicht aus den geregelten Bahnen zu treiben vermögen. Die geschichtlich bedeutsamsten Visionen sind die Erlebnisse der Jünger Jesu nach dessen Tode (s. Auferstehung Jesu) und des Apostels Paulus bei seiner Bekehrung. Aus dem Mittelalter sind die bekanntesten die des Franz von Assisi und der Katharina von Siena, in denen die Wundenmale Christi empfangen wurden, und die der Jungfrau von Orléans, aus der neuern Zeit die der Kamisarden, Swedenborgs, der durch J. Kerner bekannt gewordenen »Seherin von Prevorst«, der Katharina Emmerich, endlich die Madonnenerscheinung von Lourdes, an welch letzterer allerdings die nachträgliche Steigerung des ursprünglich Erlebten durch die mündliche Tradition besonders erkennbar ist. Aus der übrigen Religionsgeschichte verdienen die Visionen Mohammeds Erwähnung. Der Visionär kann selbst Gegenstand seiner V. werden, dann findet das Sichselbstsehen (Doppelgänger) statt. Die Phantasie kann aber auch beim Sichselbstsehen das falsche Objekt in das eigne Subjekt verlegen, so daß damit das Gefühl einer Trennung der eignen Persönlichkeit sich verbindet und man aus zwei verschiedenen Wesen zu bestehen glaubt, die von dem Einen Körper Besitz genommen haben, der dann mithin auch, beiden dienend, eine doppelte Rolle spielt. Vgl. Artikel »Zweites Gesicht« und Knauer, Die V. im Lichte der Kulturgeschichte (Leipz. 1899); Achelis, Die Ekstase in ihrer kulturellen Bedeutung (Berl. 1902), und das eine ausführliche Besprechung aller wichtigen religiösen Visionen, besonders aus der Kirchengeschichte, enthaltende Buch von A. Meyer, Die Auferstehung Christi (Tübing. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 193.
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