[21] Betrachten wir etwas ausführlicher die Sagen von den Verwandlungen.
Zur Heidenzeit wurde bekanntlich dem Glauben an Verwandlungen viel Bedeutung beigelegt. Eine Zauberin verdirbt das Wasser aller Quellen und wer nur davon trinkt, wird[21] sofort in ein Tier verwandelt. Das bei den Russen bekannte Märchen vom Ziegenprinzen, in dem der Bruder, nachdem er aus der von einer Zauberin verwünschten Quelle getrunken, in ein Zicklein verwandelt wird, gleicht dem armenischen Märchen vom »Bruder Ziegenbock« bis in die kleinsten Einzelheiten. Ein Pendant dazu ist das deutsche vom »Brüderchen und Schwesterchen«.
Der epische Vorwurf aller dieser Märchen wiederholt sich mit den verschiedenartigsten Variationen.
Es giebt auch Verwandlungenen anderer Art, welche vom Anlegen des Zauberfelles dieses oder jenes Tieres herrühren. Interessant ist das armenische Märchen von der schönen Gazellenjungfrau. In Gestalt einer Gazelle lief sie in Wäldern und Schluchten umher und schleppte die verirrten Jäger in ihr Zauberschloss. Hier verwandelte sie sich, ohne dass es jemand bemerkte, in eine Jungfrau, lud sie ins Schloss ein, bewirtete sie und schlug ihnen vor, mit ihr einen Ringkampf zu bestehen (nach anderen Varianten Schach zu spielen). Wer bezwungen wird, muss in einer tiefen Grube sitzen. Doch die Gazellenjungfrau war nicht so stark als schlau und durch verschiedene Kniffe und Verführungskünste gelang es[22] ihr immer, ihre Gegner zu bezwingen und in die Grube zu werfen – ein Sujet, welches an die »Irene« der russischen Märchen erinnert, welche gleichfalls durch List Gäste zu sich einlud und sie in einen Keller sperrte. Auf diese Weise betrog die Gazellenjungfrau viele und unter anderen auch zwei Königssöhne, die gleichfalls bei ihr in der Grube sitzen mussten. Allein wie in allen Märchen, war auch hier der jüngste Königssohn glücklicher als seine Brüder: er widerstand den Verführungskünsten der schlauen Jungfrau, riss ihr das Gazellenfell, das sie sich einhüllte, herunter, verbrannte es und rettete seine Brüder vom unvermeidlichen Untergange. Dadurch beraubte er zugleich die Jungfrau für immer der Zauberkunst, vermöge deren sie sich in ein Tier verwandelte.
Als eins der beliebtesten Sujets in den Märchen von den Verwandlungen gilt bei den Armeniern das, nach welchem der Prinz-Bräutigam von Zauberkräften beschworen, am Tage die Gestalt eines Tieres (meistens einer Schlange), bei Nacht aber seine wirkliche Gestalt annimmt.14 Dabei darf seine Braut niemand etwas von dieser Verwandlung sagen. Trotzdem[23] plaudert sie es aus und zur Strafe dafür verliert sie ihren Geliebten und findet ihn erst wieder, nachdem sie ein Paar eiserne Schuhe abgetragen und einen gusseisernen Stab zerbrochen hat. Doch damit sind ihre Prüfungen noch nicht zu Ende. Ihr Bräutigam lebt im Ehebündnis mit einer Zauberin. Die Braut erkauft sich bei dieser das Recht, mit ihrem Manne, der in festen Schlaf versunken ist, drei Nächte zu verbringen, und erst in der letzten Nacht gelingt es ihr, ihn aus dem Zauberschlafe zu erwecken und mit ihm zu entfliehen. Dem epischen Handlungsgange gemäss, verfolgt die Zauberin die Fliehenden, aber der Wunderkamm und der Spiegel, die sich bald in einen dichten Wald, bald in ein Meer verwandeln, verschaffen ihnen die Möglichkeit, ihrer Rache zu entgehen.
Das hier angeführte Sujet der Verwandlung ist auch den germanischen und slavischen Märchen nicht fremd. Die Russen kennen ein Märchen vom »Fenist, dem glänzenden Falken«, welches dem armenischen Märchen vom »Rebhuhnjünglinge« sehr ähnlich ist und in welchem, wie in der russischen Abfassung, der Geliebte in einen Vogel verwandelt durchs Fenster zur Jungfrau geflogen kommt, sich hier wieder in einen Jüngling verwandelt und bei ihr angenehm[24] plaudernd die ganze Nacht zubringt. Die Schwestern der Jungfrau beneiden sie um ihr Glück und stecken im geheimen spitzige Messer ans Fenster. In der Nacht kommt der Rebhuhnjüngling geflogen, und so sehr er sich auch bemüht, er kann nicht in die Stube hinein und schnitt sich nur die Flügel ab. Darüber erzürnt und der Meinung, seine Geliebte wäre die Schuldige, lässt er sie dafür büssen. Doch wie im russischen Märchen gelingt es ihr, die Strafe ohne Murren zu ertragen und vereinigt sich mit ihrem Geliebten für immer. Die Deutschen haben ein »Märchen vom Borstenkleid«, in dem sich der Königssohn in ein Schwein verwandelt.15 Die übrigen Einzelheiten sind fast dieselben, wie in der armenischen und russischen Abfassung. Die Russen haben noch ein anderes Märchen – von der »Froschprinzessin«, in welchem Wassilissa, die Allweise, der es beschieden ist, für eine Zeit lang die Gestalt eines Frosches anzunehmen, die Frau des Prinzen Iwan wird. Dieser verbrannte, ohne das Ende der bestimmten Frist abzuwarten, die Froschhaut über dem Feuer. Als Wassilissa, die Allweise, das erfuhr, betrübte[25] sie sich, verwandelte sich in einen weissen Schwan und flog zum Fenster hinaus. Der Prinz Iwan folgt ihr und nach langen Wanderungen und Abenteuern findet er sie und kehrt in sein Reich zurück. Ich besitze eine Variante des oben angegebenen armenischen Märchens, das der »Froschprinzessin« sehr nahe kommt. Ein Königssohn heiratete eine bezauberte Schöne, die in eine Katze verwandelt war und ohne die Zeit abzuwarten, in der die Zauberei die über seine Frau ausgeübte Kraft verlieren sollte, verbrennt er das Katzenfell über dem Feuer. Die Schöne weinte und beklagte diese unvorsichtige That des geliebten Mannes, verwandelt sich in eine Taube und fliegt in ferne Länder. Wie im russischen Märchen zieht ihr der Königssohn nach und mit Hilfe einer guten Zauberin, die ihn mit einem »fliegenden Teppiche« und anderen Zaubergegenständen versieht, findet er seine Frau wieder.
Das ist der mythologische Charakter der Sagen von den Verwandlungen. – Mit der Zeit machte sich jedoch auch in den Verwandlungen der Einfluss christlicher Ideen geltend, die das Gepräge ihres Geistes allen anderen Zweigen der epischen Volksdichtung verliehen.
Hier wie in allen anderen Erscheinungen[26] der heidnischen Mythologie sucht das Christentum andere Auslegungen, die hauptsächlich auf den Grundsätzen der Sittlichkeit beruhen. – Nicht überflüssig erscheint mir die Erwähnung der folgenden, nicht uninteressanten Sage von Verwandlungen, die von der oben ausgesprochenen Weltanschauung besonders durchdrungen ist.
Nicht weit von der Stadt Wan, beim Dorfe Lesg, befindet sich eine Quelle, die die Form eines Feuerherdes hat und vom Volke der »heilige Herd« genannt wird. (Im Oriente sind die Herde anders eingerichtet als in Europa; sie bestehen dort aus thönernen Cylindern, die in die Erde versenkt sind.) Hierher pilgern ohne Unterschied der Religion – Armenier, Türken, Jesiden und Kurden. In der Quelle befindet sich nur ein Fisch und dem er sich zeigt, der wird Glück haben. Die Sage erzählt, dieser Fisch wäre früher ein Weib gewesen und zum Beweise dessen weist man auf den silbernen Ring hin, den der Fisch in der Nase trägt – eine Sitte, die auch jetzt noch bei manchen Kurdenstämmen besteht. Es wird erzählt, der Fisch wäre eine Pfarrersfrau von unbeschreiblicher Schönheit gewesen. Einmal, als sie am Herde sass und Brot buk, trat ein Bettler zu ihr ein und bat um Brot. Sie[27] erfüllte sofort seine Bitte. Hierauf bat der Bettler der Reihe nach um andere Speisen und Wein und wieder bekam er alles. Aber bezaubert von ihrer Schönheit bat er nun um die Erlaubnis, sie küssen zu dürfen. Die Pfarrersfrau weigerte sich anfangs, aber dann meinte sie, es wäre keine Sünde und man dürfe einem Armen überhaupt nichts abschlagen. Als sie sich eben küssen liess, kam ihr Mann herein. Vor Schrecken und Scham stürzt sie in den flammenden Herd und ihr nach der Pfarrer selbst. Doch nach Gottes Willen verbrannte der Pfarrer ganz und gar und seine Frau wurde in einen Fisch verwandelt; der brennende Herd wurde zur Quelle, in der der Fisch seine Wohnung nahm.
Diese Legende gehört trotz ihres christlichen Gepräges zur Zahl der ältesten Mythen, die in ganz Vorderasien verbreitet sind. Für ihren Prototypus, der ganz den mythischen Charakter bewahrt hat, muss die syrische Fassung der Mythe von der Derketo angesehen werden, die uns Diodor nach den Worten des Ktosius wiedergiebt. Die letztere Sage ist auch dadurch interessant, dass sie einige Details über das Schicksal der Semiramis giebt, die das Sujet zahlreicher Mythen des Morgenlandes bildet. Der verstorbene Orientalist François[28] Lenorman hat diese Mythen in den Siebenziger Jahren gesammelt und in glänzender Auslegung herausgegeben. Von ihm entlehne ich auch die Sage von der Derketo. Diodor erzählt, in Syrien liege eine Stadt namens Askalon, bei der sich ein kleiner fischreicher See befinde. Unweit des Sees steht der Tempel der berühmten Göttin. Die Syrier selbst nennen sie Derketo und stellen sie als Weib dar, deren untere Körperhälfte Fischgestalt hat. Es wird erzählt, dass Aphrodite gegen die genannte Göttin aufgebracht, in dieser auf gewaltsame Weise die Liebe zu einem ihrer Tempelpriester anfachte. Durch dieses Verhältnis wurde Derketo Mutter eines Mädchens, nämlich der in der Folge berühmten Semiramis. Doch bald schämte sich Derketo ihrer Leidenschaft, liess den Geliebten umbringen und schickte die Tochter in die Wüste in eine felsige Gegend, wo sie von Tauben ernährt wurde; sie selbst stürzte sich, von Gram verzehrt, in den See und verwandelte sich in einen Fisch.
Die Ähnlichkeit der syrischen Mythe mit der armenischen Legende ist sichtbar. Hier der heilige Herd, zu dem das Volk wallfahrtet – dort der Tempel am Ufer des fischreichen Sees. Hier der Pfarrer – dort der Opferpriester. Ihr Schicksal ist dasselbe, beide werden[29] des unschuldiger Weise umgekommenen oder ungerechter Weise beleidigten Weibes wegen umgebracht. Sowohl in der armenischen wie in der syrischen Sage werden diese Weiber zu Fischen.
Das Sujet einer Verwandlung anderer Art bilden die Sagen von Verstorbenen, die schwere Verbrechen begangen haben oder die nicht nach den von der Religion vorgeschriebenen Gebräuchen beerdigt worden sind. In solchen Sagen treten besonders verstorbene Ungläubige Mahomedaner auf, die nach den Vorstellungen der Christen mehr als andere der »Strafe Gottes« ausgesetzt sind. Solche Verstorbene können nicht ruhig in ihren Gräbern verbleiben und in jeder Nacht verlassen sie sie und irren in Tiergestalt auf dem Friedhofe umher. – Es wird erzählt, ein Bauer sei am Friedhofe der »Ungetauften« vorbeigeritten, als es schon dunkelte. Hier sah er ein Kätzchen, das zwischen den Grabsteinen herumschlich. Er blieb stehen und schaute hin: plötzlich verwandelte sich das Kätzchen in einen Hund und bald darauf in einen Esel. Aber wie gross war der Schrecken des Bauern, als sich auch der Esel in einen ganz nackten Menschen verwandelte und sich neben ihn aufs Pferd setzte. Zu seinem Glücke wurde in diesem Augenblicke[30] die Glocke zum Morgengebet geläutet (nach anderen krähte der Hahn) und plötzlich verschwand das Wandelwesen.
Diese Sagen erinnern an die blutsaugenden Totengespenster der russischen Volkssagen, welche zur Nachtzeit ihre Gräber verlassen und lebendige Kinder umbringen, indem sie ihnen das Blut aussaugen. Es ist interessant zu bemerken, dass nach der russischen wie nach der armenischen Sage das Totengespenst dadurch unschädlich gemacht wird, dass man sein Grab aufgräbt und ihm mit der Schaufel die Gurgel zersticht.
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