6. Die drei Dummen.

[329] Ein neuernannter Stadtpräfekt erteilt seinem obersten Gerichtsdiener den Auftrag, ihm innerhalb dreier Tage drei durch aussergewöhnliche Dummheit ausgezeichnete Leute vorzuführen. Er stellt ihm zu diesem Zweck drei Arrestbefehle in blanco zur Verfügung und verspricht ihm eine reichliche Belohnung, falls er seine Aufgabe in befriedigender Weise ausführe. Der Gerichtsdiener macht sich auf den Weg und sieht einen Menschen, welcher auf einem Esel reitet, dabei aber zwei schwere Säcke[329] mit Reis auf den Schultern trägt, so dass sowohl er unter seiner Last ächzt, als auch der arme Esel sich kaum von der Stelle zu bewegen vermag. Er nimmt ihn fest. Am zweiten Tage begegnet er auf der Strasse in der Nähe eines Stadtthores einem Menschen, welcher einen Baumstamm quer auf dem Nacken trägt. Als er an das Thor kommt, kann er dasselbe mit seiner Last nicht passieren und bleibt ratlos stehen, ohne auf ein Mittel zu verfallen, seiner Verlegenheit abzuhelfen. Der Gerichtsdiener nimmt auch ihn fest. Einen dritten findet er nicht und erscheint am dritten Tage mit seinen beiden Arrestanten vor dem Präfekten. Der Präfekt lässt sich erzählen, was es mit den beiden Menschen auf sich habe. »Sehr schön,« sagte er, »der dumme Kerl hier hätte natürlich mit seinen beiden Reissäcken auf der Schulter zu Fuss gehen und den Esel am Halfter führen müssen. Und. hier dieser Andere hätte doch den Baumstamm in zwei Hälften durchsägen können, dann hätte er das Thor ohne Schwierigkeit zu passieren vermocht. So weit bin ich mit der Ausführung deines Auftrages zufrieden. Aber wo ist der dritte?« – »Der dritte, mit Verlaub zu melden, Herr Präfekt«, antwortete der Gerichtsdiener, »sind Sie selber«. – »Was sagst Du da, Mensch?« ruft der Präfekt. – »Nichts für ungut, Herr Präfekt,« erwidert der Gerichtsdiener. »Aber es ist doch wohl klar, dass der eine die Säcke hätte dem Esel aufladen, und ihn dann am Halfter führen können, und dass der andere den Baumstamm nur umzukehren und gerade aus zu tragen brauchte, um durch das Thor durchzukommen. Dass Sie das nicht selber gefunden haben, Herr Präfekt, dadurch haben Sie doch wohl verdient, mit den Beiden auf eine Stufe gestellt zu werden«. – Der Präfekt musste lachen, und hielt dem Gerichtsdiener die versprochene Belohnung nicht vor.

Quelle:
Arendt, C.: Moderne chinesische Tierfabeln und Schwänke. In: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang (1891), S. 329-330.
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