[183] 62. Der Scherge

[183] In einer Stadt in der Nähe der Kiautschoubucht war einmal ein Scherge namens Dung. Als er eines Tages von der Suche nach Dieben zurückkam, war die Dämmerung schon hereingebrochen. Ehe er den Fluß bei der Stadt durchwatete, setzte er sich am Ufer nieder, steckte sich ein Pfeife an und zog die Schuhe aus. Als er aufsah, erblickte er plötzlich einen Mann mit rotem Hut, in der Kleidung eines Schergen, der neben ihm kauerte.

Erstaunt fragte er ihn: »Wer bist du denn? Deiner Kleidung nach gehörst du auch zu unserem Beruf; aber ich habe dich in unserem Kreise noch nie gesehen. Erzähle bitte, wo du herkommst!«

Der andere sprach: »Ich bin von langer Reise müde und möchte mit dir zusammen eine Pfeife Tabak genießen. Ich denke, du wirst nichts dagegen haben.«

Dung reichte ihm Tabak und Pfeife.

Er aber sprach: »Das ist nicht nötig. Rauch du nur! Mir ists genug, wenn ichs rieche.«

So plauderten sie eine Weile miteinander und gingen zusammen durch den Fluß. Sie wurden mählich vertrauter, und der andere sprach: »Ich will dirs offen heraussagen, ich bin der oberste der Schergen der Unterwelt und stehe unter dem Gott des Großen Berges. Du bist auf der Oberwelt ein Scherge von Ruf. Ich kann mich mit meiner Geschicklichkeit in der Unterwelt wohl sehen lassen. Da wir so gut zueinander passen, möchte ich Brüderschaft mit dir schließen.«

Dung wars zufrieden und fragte: »Was führt dich eigentlich hierher?«

Der andere sprach: »In eurem Kreise wohnt einer namens Wang, der war früher Vorsteher des Getreidewesens und hat damals einen Offizier zum Tode gebracht. Der[184] Mann verklagte ihn nun in der Unterwelt. Der Höllenfürst kann die Sache nicht entscheiden und hat daher den Herrn des Großen Berges gebeten, sie in Ordnung zu bringen. Der Herr des Großen Berges hat ihn nun dazu verurteilt, daß sein Besitz und sein Leben verkürzt werden solle. Erst soll auf der Oberwelt sein Vermögen eingezogen, dann soll seine Seele in die Hölle geschleppt werden. Ich bin vom Richter der Toten abgesandt, ihn zu holen. Es ist jedoch fester Brauch, daß wenn einer geholt werden soll, man erst beim Stadtgott sich zu melden hat. Der Stadtgott erläßt dann einen Haftbefehl und schickt einen seiner Geisterschergen, um die Seele festzunehmen und mir dann zu übergehen. Darnach erst darf ich ihn mitnehmen.«

Dung fragte nach den näheren Umständen; doch der andere sprach: »Du wirst alles später selber sehen.«

In der Stadt angekommen, lud Dung den andern ein, in seinem Haus zu wohnen, und wartete mit Wein und Speisen auf. Der andere aber plauderte nur und berührte weder Becher noch Eßstäbchen.

Dung sprach: »In der Eile konnte ich kein besseres Essen herbeischaffen; es ist dir wohl zu schlecht?«

Der Gast aber sprach: »O nein, ich bin schon satt und betrunken. Wir Geister genießen nur den Duft; wir sind da anders als die Menschen.«

Es war schon tiefe Nacht, als er aufbrach, um in den Stadtgott-Tempel zu gehen.

Kaum dämmerte der Morgen, da war er schon wieder da, um Abschied zu nehmen, und sprach: »Es ist jetzt alles in Ordnung; ich gehe. Nach zwei Jahren wirst du nach Taianfu, der Stadt am Großen Berge, kommen, da werden wir uns wieder sehen.«

Dem Dung wurde es unheimlich bei der Sache. Nach einigen Tagen kam die Nachricht, daß jener Wang tatsächlich gestorben sei. Der Kreisbeamte reiste nach dem Dorf des Verstorbenen, um sein Beileid zu bezeigen. Dung[185] war in seinem Gefolge. Der Wirt der Herberge war Pächter im Hause des Wang.

Dung fragte ihn: »Als Herr Wang verschied, ist da nichts Sonderliches vorgekommen?«

»Es ging sehr unheimlich zu,« antwortete der Wirt, »und meine Mutter, die in dem Hause viel zu tun hat, kam heim und verfiel in eine hitzige Krankheit. Sie war einen Tag und eine Nacht bewußtlos; ihr Atem war fast nicht mehr zu spüren. Sie kam wieder zu sich, gerade an dem Tag, als die Nachricht von dem Tode des Herrn Wang bekannt wurde. Sie erzählte: ›Ich bin in der Unterwelt gewesen und begegnete ihm dort. Er schleppte Ketten am Halse und wurde von mehreren Teufeln vorwärts gezerrt. Ich fragte, was er denn getan habe.‹ Er sagte: ›Ich habe jetzt keine Zeit, es zu erzählen. Wenn du zurückkommst, frage meine Nebenfrau, so wirst du alles erfahren.‹ Meine Mutter ging nun gestern hin und forschte nach. Unter Tränen erzählte die Frau: ›Unser Herr war lange Beamter, doch kam er nicht voran. In Nanking war er Vorsteher des Getreidewesens, da war auch ein hoher Offizier, der mit unserem Herrn sehr vertraut war. Sie hatten sogar einander Brüderschaft zugeschworen. Er kam damals immer zu uns ins Haus, und sie tranken und plauderten miteinander. Eines Tages fragte ihn unser Herr: Wir Verwaltungsbeamten haben ein hohes Gehalt und auch sonst ein gutes Einkommen. Du bist Offizier, hast schon die zweite Rangstufe; aber dein Gehalt ist so niedrig, daß du unmöglich damit auskommen kannst. Hast du nebenher noch andere Einkünfte? – Der Offizier erwiderte: Wir stehen so gut miteinander, daß ich schon offen mit dir reden kann. Wir Offiziere sind darauf angewiesen, uns Nebeneinkünfte zu verschaffen, um unsere Taschen ein bißchen zu füllen. Bei der Auszahlung des Soldes machen wir kleine Kursgewinne; auch führen wir mehr Soldaten in den Listen, als wirklich da sind. Wollten wir nur von unserem Solde leben, so müßten wir Hungers sterben. –[186] Als unser Herr diese Rede vernommen, da ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, daß er durch Aufdeckung dieser verbrecherischen Machenschaften sich um den Staat ein Verdienst erwerbe und daß das seinem Vorankommen sicher nützlich sei. Auf der anderen Seite dachte er auch darüber nach, daß es nicht recht sei, das Vertrauen seines Freundes zu mißbrauchen. Er zog in diesen Gedanken sich in die hinteren Gemächer zurück. Im Hofe stand ein runder Pavillon. In schwere Gedanken versunken, legte er die Hände auf den Rücken und ging lange um den Pavillon herum. Schließlich stampfte er auf die Erde und sagte mit einem Seufzer: Jeder ist sich selbst der Nächste; ich opfere den Freund. – Dann machte er einen Bericht, in welchem er den Offizier zur Anzeige brachte. Ein kaiserlicher Befehl kam heraus. Die Sache wurde untersucht und der Offizier zum Tode verurteilt. Unser Herr aber wurde sofort im Rang erhöht und kam von da an rasch voran. Die ganze Sache hat außer mir niemand erfahren.‹ – Als nun meine Mutter von ihrer Begegnung in der Unterwelt erzählte, da brach die ganze Familie in lautes Weinen aus. Man ließ vier Zelte voll von buddhistischen und taoistischen Priestern kommen, die fasten und Messe lesen sollten fünfunddreißig Tage lang, um ihn zu erlösen. Ganze Berge von Papiergeld, Seide und Strohpuppen wurden verbrannt. Noch immer sind die Feiern nicht zu Ende.«

Als Dung das hörte, erschrak er sehr.

Nach zwei Jahren erhielt er den Befehl, nach Taianfu zu reisen, um dort Räuber dingfest zu machen. Da dachte er bei sich selbst: »Mein Freund, der Geist, muß doch sehr mächtig sein, daß er diese Reise schon so lange vorher wußte. Ich muß mich nach ihm erkundigen. Vielleicht bekomme ich ihn zu Gesicht.«

In Taianfu angekommen, suchte er eine Herberge auf.

Der Wirt empfing ihn mit den Worten: »Seid Ihr der Meister Dung, und kommt Ihr von der Kiautschoubucht?«[187]

»Der bin ich,« sagte Dung bestürzt, »woher kennst du mich denn?«

Der Wirt antwortete: »Heute Nacht erschien mir der Scherge vom Bergtempel und trug mir auf: ›Morgen kommt von der Kiautschoubucht ein Mann namens Dung, das ist ein guter Freund von mir.‹ Er beschrieb mir dann noch ganz genau Euer Aussehen und Eure Kleidung und sagte, ich solle mirs sorgfältig merken, und wenn Ihr kämet, solle ich Euch zuvorkommend behandeln und keinerlei Bezahlung annehmen, er wolle mirs reichlich vergelten. Als ich Euch nun kommen sah, da stimmte alles mit meinem Traume überein, deshalb erkannte ich Euch, Ich habe schon ein ruhiges Zimmer für Euch hergerichtet und bitte Euch vorliebzunehmen.«

Hocherfreut folgte ihm Dung. Der Wirt bediente ihn mit der größten Aufmerksamkeit und ließ es an Wein und Speisen nicht fehlen.

Um Mitternacht kam der Geist. Ohne die Tür zu öffnen, stand er vor seinem Bett, gab ihm die Hand und fragte ihn, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen sei.

Dung antwortete auf alles und bedankte sich noch dafür, daß er im Traum dem Wirt erschienen sei.

Er blieb einige Tage dort wohnen. Tagsüber ging er auf dem Großen Berg spazieren, und bei Nacht kam sein Freund, um mit ihm zu plaudern. Als er seine Geschäfte erledigt hatte, verabschiedete er sich von ihm. Er fragte dabei auch noch, wie es mit jenem Herrn Wang stehe.

»Sein Urteil ist schon gefällt«, erwiderte der andere. »Dieser Mensch hat Gewissenhaftigkeit geheuchelt und seinen Freund verräterisch zum Tode gebracht. Unter allen Sünden gibt es keine schlimmere als die. Zur Strafe kommt er nun als Tier zur Welt.« Dann fügte er noch bei: »Wenn du nun heimkommst, mußt du stets auf deine Gesundheit achten. Vom Schicksal sind dir achtundsiebzig Lebensjahre bestimmt. Wenn die Zeit gekommen ist, so[188] will ich dich selber abholen. Ich will dann für eine Stelle als Scherge in der Unterwelt sorgen. Dann können wir immer beisammen sein.«

Als er dies gesagt, verschwand er.

Quelle:
Wilhelm, Richard: Chinesische Volksmärchen.Jena: Eugen Diederich, 1914, S. 183-189.
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