[259] 87. Der alte Drachenbart

Zur Zeit des letzten Kaisers der Suidynastie war die Macht in den Händen des kaiserlichen Oheims Yang Su. Der war stolz und verschwenderisch. In seinem Saale waren Chöre von Sängerinnen und Tänzerinnen aufgestellt, und dienende Mädchen waren aller seiner Winke gewärtig. Wenn die Großen des Reiches kamen, ihn zu besuchen, so blieb er gemächlich auf seinem Ruhebett sitzen bei ihrem Empfang.

Es lebte zu jener Zeit ein tapferer Held namens Li Dsing.[259] Der kam in ärmlichem Gewand, Yang Su zu sehen um ihm einen Plan zur Beruhigung des Reiches zu überreichen.

Er machte eine tiefe Verbeugung, die jener nicht erwiderte, dann sprach er: »Das Reich ist im Begriff, in Wirren zu geraten, und allenthalben stehen Helden auf. Ihr seid der höchste Diener des kaiserlichen Hauses; Eure Pflicht wäre es, die Tapferen um den Thron zu scharen. Ihr solltet nicht die Leute durch Euren Hochmut abstoßen.«

Als Yang Su das hörte, da nahm er sich zusammen und erhob sich von seinem Platz und sprach leutselig mit ihm.

Li Dsing überreichte ein Schriftstück, und er ließ sich mit ihm über alles mögliche ins Gespräch ein. Eine Dienerin von außerordentlicher Schönheit stand daneben. Sie hielt einen roten Wedel in der Hand und blickte unverwandt auf Li Dsing. Der verabschiedete sich und ging in die Herberge zurück.

Um Mitternacht hörte er an die Tür klopfen. Er sah hinaus; da stand jemand in Hut und purpurnem Gewände vor der Tür, der trug an einem Stock einen Sack über der Schulter.

Er fragte, wer er sei, und erhielt die Antwort: »Ich bin die Wedelträgerin des Yang Su.«

Darauf trat sie ins Zimmer, zog die Überkleider aus und ihren Hut. Da sah er, daß es ein schönes Mädchen von achtzehn, neunzehn Jahren war.

Sie neigte sich vor ihm, und als er ihren Gruß erwiderte, da hob sie an: »Ich bin schon lange im Hause Yang Su's und habe schon viel berühmte Leute gesehen, aber keinen, der Euch gleich käme. Ich will Euch dienen, wohin Ihr geht.«

Li Dsing erwiderte: »Der Minister ist mächtig. Ich fürchte, wir stürzen uns ins Unglück.«

»Er ist ein Leichnam, in dem noch ein wenig Atem übrig ist,« sagte das Wedelmädchen, »den braucht man nicht zu fürchten.«[260]

Er fragte sie nach ihrem Namen. Sie sagte, sie heiße Dschang und sei die Älteste.

Wie er sie so ansah mit ihrem mutigen Benehmen und ihren vernünftigen Worten, da merkte er, daß sie ein Heldenmädchen sei, und sie beschlossen, heimlich zu entfliehen. Das Wedelmädchen zog wieder Männerkleidung an; sie setzten sich auf Pferde und ritten weg. Sie wollten nach Taiyüanfu.

Am andern Tage kehrten sie in einer Herberge ein. Sie ließen die Betten zurecht rücken und stellten einen Kochherd auf, um ihr Mahl zu kochen. Das Wedelmädchen stand neben dem Bett und kämmte ihr Haar. Das Haar war so lang, daß es bis auf den Boden reichte und so glänzend, daß man sich drin spiegeln konnte. Li Dsing war gerade hinausgegangen, die Pferde zu bürsten. Da tauchte plötzlich ein Mann auf, der hatte einen roten, lockigen Schnurrbart wie ein Drache. Er war auf einem lahmen Maultier geritten, warf nun seinen Ledersack vor dem Kochherd auf die Erde, nahm ein Kissen und legte sich aufs Bett und sah dem Wedelmädchen zu, wie sie sich kämmte. Li Dsing erblickte ihn und ward zornig. Aber das Wedelmädchen hatte ihn sofort durchschaut. Sie winkte dem Li Dsing zu, daß er sich zurückhalten solle; dann kämmte sie rasch ihr Haar zu Ende und drehte es in einen Knoten.

Sie begrüßte den Gast und fragte ihn nach seinem Namen.

Er sagte, er heiße Dschang.

»Ich heiße auch Dschang,« erwiderte sie, »da sind wir also Verwandte.«

Darauf verneigte sie sich vor ihm als ihrem älteren Bruder.

»Wieviel Brüder seid ihr?« fragte sie dann.

»Ich bin der dritte«, war die Antwort. »Und du?«

»Ich bin die Älteste.«

»Wie gut trifft es sich, daß ich heute eine Schwester gefunden habe«, sprach vergnügt der Fremde.[261]

Darauf rief das Wedelmädchen zur Tür hinaus nach ihrem Mann: »Komm her! Ich will dir meinen dritten Bruder vorstellen.«

Da kam Li Dsing herbei und begrüßte ihn.

Dann setzte man sich zusammen, und der Fremde fragte: »Was habt ihr denn für Fleisch?«

»Hammelbeine«, war die Antwort.

»Ich bin recht hungrig«, sprach der Fremde.

Li Dsing ging auf den Markt, um Wein und Brot zu kaufen. Der Fremde zog seinen Dolch hervor, schnitt das Fleisch auf, und sie aßen zusammen. Als sie fertig waren, da fütterte er mit dem übrigen Fleisch das Maultier.

Dann sprach er: »Der Herr Li scheint mir auch ein armer Ritter zu sein. Wie kommt Ihr denn mit meiner Schwester da zusammen?«

Li Dsing erzählte, was sich zugetragen hatte.

»Und wo wollt ihr denn jetzt hin?«

»Nach Taiyüanfu«, war die Antwort.

Der Fremde sprach: »Ach, mach mir doch noch eine Schüssel Wein zurecht! Ich hab da eine Würze für den Wein, und ihr könnt mit halten.«

Damit öffnete er den Ledersack und nahm daraus einen Menschenkopf und Herz und Leber hervor. Dann zerschnitt er mit dem Dolch das Herz und die Leber und tat sie in den Wein.

Li Dsing war entsetzt.

Aber der Fremde sprach: »Das war mein schlimmster Feind. Zehn Jahre lang hab ich den Haß mit mir herumgetragen. Heute hab ich ihn umgebracht, und es reut mich nicht.«

Dann sprach er weiter: »Ihr scheint mir kein gewöhnlicher Kerl zu sein. Habt Ihr davon gehört, daß es hier in der Nähe irgendwo einen Helden gibt?«

Li Dsing antwortete: »Ja, ich weiß wohl einen, dem scheint die Herrschaft vom Himmel bestimmt zu sein.«

»Und wer ist das?« fragte der andere.[262]

»Der Sohn des Herzogs Li Yüan von Tang. Er ist erst zwanzig Jahre alt.«

»Könnt Ihr mich ihm einmal vorstellen?« fragte der Fremde.

Und als Li Dsing es bejahte, fuhr er fort: »Die Zeichendeuter sagen, in Taiyüanfu sei ein besonderes Zeichen in der Luft. Vielleicht kommt es von jenem Manne her. Morgen könnt Ihr auf mich warten an der Fenyangbrücke.«

Nach diesen Worten stieg er auf sein Maultier und ritt weg, und zwar ging es so rasch, als flöge er davon.

Das Wedelmädchen sprach: »Mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Ich bemerkte, daß er anfangs keine gute Absicht hatte. Darum habe ich ihn durch die Verwandtschaft uns verbunden.«

Darauf brachen sie miteinander auf nach Taiyüanfu, und an der genannten Stelle stießen sie richtig auf den Drachenbart. Li Dsing hatte einen alten Freund namens Liu Wendsing, der war ein Zeltgenosse des Prinzen von Tang.

Er stellte den Fremden dem Liu Wendsing vor, indem er sprach: »Dieser Fremde kann aus den Linien des Gesichts weissagen und möchte den Prinzen sehen.«

Liu Wendsing führte ihn daraufhin beim Prinzen ein. Der Prinz war in ganz einfacher Hauskleidung, hatte aber etwas Eindrucksvolles in seinem Wesen, das gegen alle andern Menschen abstach. Als der Fremde ihn erblickte, da versank er in tiefes Schweigen und wurde aschfahl im Gesicht. Nachdem er einige Becher Wein getrunken hatte, verabschiedete er sich.

»Das ist der wahre Herrscher«, sprach er zu Li Dsing. »Ich bin beinahe ganz sicher darüber aber mein Freund muß ihn auch noch sehen.«

Dann machte er einen bestimmten Tag mit ihnen aus und eine bestimmte Herberge.

»Wenn Ihr vor dieser Tür dann dieses Maultier seht und[263] daneben noch einen ganz mageren Esel, so bin ich mit meinem Freunde dort.«

Am bestimmten Tag ging Li Dsing hin, und richtig sah er das Maultier und den Esel vor der Tür. Er raffte die Kleider zusammen und stieg ins obere Stockwerk hinauf. Da saßen der Drachenbart und ein Taoist beim Wein. Wie er Li Dsing erblickte, war er hocherfreut, hieß ihn sitzen und mit trinken. Als sie genug getrunken hatten, gingen alle drei zusammen wieder zu Liu Wendsing. Der spielte gerade mit dem Prinzen Schach. Der Prinz erhob sich ehrerbietig und forderte sie zum Sitzen auf.

Sobald der Taoist sein leuchtendes und heldenhaftes Wesen sah, ward er bestürzt und begrüßte ihn mit einer tiefen Verbeugung, indem er sprach: »Das Spiel ist aus!«

Beim Abschied sagte der Drachenbart zu Li Dsing: »Geht weiter nach Sianfu, und wenn die Zeit gekommen ist, so fragt nach mir an dem und dem Ort.«

Damit ging er pustend weg.

Li Dsing und das Wedelmädchen packten ihre Sachen zusammen, verließen Taiyüanfu und gingen nach Westen weiter. Zu jener Zeit starb Yang Su, und es erhoben sich große Wirren im Reich.

Nach einigen Tagen kam Li Dsing mit seiner Frau an den vom Drachenbart bestimmten Ort. Sie klopften an eine kleine Holztür, da kam ein Diener heraus, der sie durch lange Gänge führte. Prächtige Gebäude erhoben sich vor ihnen, vor denen eine Schar von Sklavinnen standen. Sie traten in einen Saal, in dem die kostbarste Aussteuer aufgebaut war, die man sich denken konnte, Spiegel, Kleider, Schmuck, alles war von einer Pracht, wie sie auf Erden sonst nicht zu sehen war. Schöne Sklavinnen führten sie zum Bade, und als sie ihre Kleider gewechselt hatten, wurde ihr Freund gemeldet. Er trat herein, in Seide und Fuchsfelle gekleidet und glich in seinem Äußeren fast einem Drachen oder Tiger. Erfreut begrüßte er sie und rief auch seine Frau herbei, die von ausnehmender[264] Schönheit war. Ein Festmahl wurde aufgetragen, und die vier setzten sich zu Tische. Der Tisch war bedeckt mit den kostbarsten Speisen, deren Namen sie nicht einmal kannten. Becher und Teller und alle Eßgeräte waren von Gold und Jaspis, mit Perlen und Edelsteinen geschmückt. Zwei Chöre von Musikantinnen bliesen abwechselnd Flöten und Schalmeien. Sie sangen und tanzten, und es war, als wären sie in den Palast der Mondfee versetzt. Die Regenbogengewänder flatterten, und die Tänzerinnen waren von einer Schönheit, die alles Irdische überstieg.

Als sie einige Runden getrunken hatten, da befahl er den Dienern Betten herbeizubringen, auf denen gestickte seidene Decken ausgebreitet waren. Nachdem sie sich an allem satt gesehen hatten, überreichte ihnen Drachenbart ein Buch und einen Schlüssel.

Dann sprach er: »In diesem Buche sind die Kostbarkeiten und Reichtümer aufgezeichnet, die in meinem Besitze sind. Ich schenke sie euch beiden zur Hochzeit. Ohne Besitz läßt sich nichts Großes unternehmen, und es ist meine Pflicht, daß ich meine Schwester auch ordentlich ausstatte. Ich hatte ursprünglich vor, das Reich der Mitte in die Hand zu nehmen und hier etwas zu machen. Nun ist aber schon ein Herrscher da, was soll ich da weiter an diesem Orte tun? Der Prinz Tang in Taiyüanfu ist ein rechter Held. In ein paar Jahren wird er Ordnung geschaffen haben. Ihr beiden müßt ihm beistehen und werdet es sicher zu hohen Ehren bringen. Du, Schwester, bist nicht nur schön, sondern hast auch den rechten Sinn. Niemand anders als du wäre imstande gewesen, den Wert Li Dsings zu erkennen, und niemand anders als Li Dsing hätte das Glück gehabt, dich zu treffen. Du wirst die Ehren deines Mannes teilen, und dein Name wird in der Geschichte genannt sein. Das alles ist kein Zufall. Die Schätze, die ich euch geschenkt, müßt ihr verwenden, um dem wahren Herrn zu helfen. Laßts euch angelegen sein! In zehn Jahren wird ferne im Südosten sich ein Schein erheben,[265] das soll das Zeichen sein, daß ich mein Ziel erreicht. Dann mögt ihr nach Südosten hin Weinspende gießen, um mir Glück zu wünschen.«

Darauf ließ er die Dienerinnen und Knechte der Reihe nach Li Dsing und das Wedelmädchen begrüßen und sprach zu ihnen: »Das sind eure Herrn.«

Nach diesen Worten nahm er seine Frau an der Hand; sie bestiegen die bereit gehaltenen Pferde und ritten weg.

Li Dsing und seine Frau bezogen nun das Haus und waren unermeßlich reich. Sie folgten dem Prinzen Tang, der Ordnung im Reiche schuf, und standen ihm mit ihrem Gelde bei. So ward das große Werk vollbracht, und nachdem das Reich in Frieden war, ward Li Dsing zum Herzog von We ernannt und das Wedelmädchen zur Herzogin.

Nach zehn Jahren aber ward dem Herzog berichtet, daß in dem Reiche ferne überm Meer tausend Schiffe gelandet seien mit hunderttausend gepanzerten Soldaten. Die hätten das Land erobert, den Fürsten getötet und ihren Führer zum König eingesetzt. Das Reich sei nun in Ordnung.

Da wußte der Herzog, daß der Drachenbart sein Werk vollbracht. Er sagte es seiner Frau. Sie zogen Festgewänder an und spendeten Wein, um ihren Glückwunsch darzubringen. Da sahen sie am Südosthimmel leuchtend einen roten Schein aufstrahlen. Den hatte wohl der Drachenbart entsandt, um ihnen Antwort zu geben. Da waren beide hoch erfreut.

Quelle:
Wilhelm, Richard: Chinesische Volksmärchen.Jena: Eugen Diederich, 1914, S. 259-266.
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