Der Wahrsager.

[437] Die Japaner glauben fest an Träume und Vorbedeutungen und würden, wenn es nicht allerhand Mittel zur Beschwichtigung geängsteter Gemüther gäbe, niemals davor in Ruhe kommen. Eines dieser Beruhigungsmittel ist ein Fabelthier, der Baku, ein großes vierfüßiges Thier, halb mit Haaren, halb mit breiten Schuppen bedeckt, mit einem hundeartigen Kopfe und starken Füßen und Klauen, welches im Stande ist, alle bösen Zeichen und Zauberdinge zu verschlingen und gute an deren Stelle treten zu lassen. Außerdem aber giebt es Traumdeuter, Astrologen und Wahrsager in Menge, und namentlich die letzteren, die auf allerhand Art und Weise nicht nur die Zukunft zu offenbaren, sondern auch gegenwärtige, in Dunkel gehüllte Dinge ans Licht zu bringen vermögen, finden außerordentlichen Zuspruch, mögen sie Priester oder Laien sein, wenn nur das Volk Vertrauen in ihre Fähigkeiten setzt.

Ein solcher Wahrsager kam einst nach Tokio, fand aber[437] Anfangs keinen großen Zuspruch, denn statt der vielverheißenden Apparate seiner Collegen, wie Schildkrötenschalen, Schulterblätter vom Hirsche, die man ins Feuer legt und Sprünge bekommen läßt, oder Punktirtafeln und eigens zugerichteter Bambusstäbchen, wandte er nur eine einfache Rechenmaschine an, wie sie jeder Japaner führt, und verschmähete alle absonderlichen Ceremonien. Zu diesem Wahrsager kam eines Tages ein Bauer, dem ein Pferd gestohlen war, und der schon bei mehreren anderen Wahrsagern sich vergebens Rathes erholt hatte. Er trug dem Wahrsager alles genau vor, was er über den Vorgang mittheilen konnte, und dieser begann seine Manipulationen. Nach kurzer Frist ward er verlegen und bat um Geduld und Zeit, damit er sein Verfahren wiederholen könne; als dies geschehen, sprach er mit mehr Selbstvertrauen: »Lieber Freund, ich sehe wohl, es ist nicht anders; mag die Sache noch so seltsam klingen, Euer Pferd befindet sich ohne allen Zweifel augenblicklich unter Matten.« Der Bauer war darüber sehr betroffen, denn er dachte natürlicher Weise, sein gestohlenes Thier solle unter den Matten liegen, mit denen der Boden eines Zimmers bedeckt sei, und hielt dies für ganz unmöglich. Er bat den weisen Mann inständig, noch einmal eine Untersuchung anzustellen, und als das Ergebniß zum dritten Male das nämliche war, ging er kopfschüttelnd von dannen, ohne dem Wahrsager für alle seine Mühe gehörigen Dank und Lohn zu spenden.

Kaum aber war der Bauer fortgegangen und auf die nächste Straße gekommen, so begegnete ihm ein Pferd, das mit Matten beladen war, welche zur Ausstattung eines Hauses in der Nähe verwandt werden sollten. Durch den Ausspruch des Wahrsagers aufmerksam geworden, sah er alsbald, daß es sein eigenes Pferd war, welches also, ganz jenem Ausspruche gemäß, sich unter Matten befand.

Sogleich forderte er von dem Pferdeführer sein Eigenthum zurück; dieser machte es ihm auch nicht streitig, sondern suchte das Weite und war froh, ohne Strafe davonzukommen. Der[438] Bauer aber, hocherfreut, so bald wieder in den Besitz seines Pferdes gelangt zu sein, pries nunmehr die Geschicklichkeit des Wahrsagers. Er begab sich eigens zu demselben zurück, dankte ihm aufs verbindlichste und bezahlte ihn reichlich; die Leute aber, denen er die Geschichte erzählte, faßten jetzt das höchste Zutrauen zu dem früher mißachteten Wahrsager, und dieser erhielt die größte Kundschaft unter allen Wahrsagern des ganzen Stadtviertels.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 437-439.
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