Es war einmal in Tonga ein König, der war wild und grausam; sein größtes Vergnügen waren Krieg und Menschenmorden; alle fürchteten ihn und niemand liebte ihn – selbst seine Frauen nicht; er hatte nämlich viele Frauen, doch die hatte er nicht nach Sitte und Brauch des Landes geheiratet; sondern wenn ein von ihm Erschlagener eine schöne Tochter hatte, dann führte er sie mit Gewalt weg; die häßlichen tötete er jedoch. Damit nicht zufrieden, nahm er auch anderen Männern ihre Frauen und Töchter fort, denn er fürchtete niemand. Er war ein großer, mächtiger König und hatte viele Anhänger. Die kühnsten und verdorbensten jungen Leute schlossen sich ihm an, sie folgten ihm überall hin und schlugen seine Feinde nieder.
Eines Tages fuhr er in seinem großen Doppelboot übers Meer. Da tauchte plötzlich eine schwarze Wolke am Himmel auf; und aus der Wolke fuhr ein starker, wilder [119] Wind heraus. Der zerschmetterte das Boot, zerriß das Segel und wirbelte es über die Wogen weithin weg. Dann trat eine lange Windstille ein.
»Der Wind hat einen scharfen Zahn,« sagte der König. »Wir können noch von Glück sagen, daß wir mit dem Leben davongekommen sind. Aber unser Segel ist hin. Greift zu den Paddeln, Leute, und rudert ans Land zurück!«
Sie ließen den Mast herunter und fingen an zu rudern. Doch kamen sie nur langsam vorwärts, denn das Boot war groß und schwer beladen, weil so viele Menschen darin waren. Und als die Nacht sich auf die Wasser senkte, hatten sie erst eine kleine Strecke zurückgelegt. Sie ruderten die ganze Nacht über und wurden matt und müde; und doch, als der Morgen tagte, war das Land noch weit weg; in dieser üblen Lage entsank den Männern das Herz. »Wir sind hungrig und schwach,« sagten sie, »wir können nicht mehr rudern.«
Dabei zogen sie die Paddeln ein und hüllten sich in Schweigen. Langsam trieb das Boot auf der Dünung hin.
»Wir wollen essen,« sagte der König. »Was haben wir noch an Bord?«
»Es ist nichts mehr da, Herr,« erwiderte ein junger Mann. »Die letzten Yamsknollen kochten wir gestern, bevor uns die Bö überraschte.«
»Wir müssen was essen,« sagte der König nochmals, »niemand kann arbeiten, wenn er nichts ißt. Geht und seht nach, ob auf der Luvseite des Bootes nicht einige Bananenstrünke noch übrig sind.«
Wohlverstanden, darin steckt ein verborgener Sinn. Auf dem tama, der Luvseite beim Doppelboot pflegen die Frauen sich während der Seereise aufzuhalten, denn sie dürfen sich nicht auf der kata, der Leeseite, aufhalten. Wenn der König nun sagte: »Geht und seht nach, ob auf der Luvseite nicht einige Bananenstrünke noch übrig sind«, so bedeutet das: »Tötet eine Frau, die wir verzehren können.«
Ein junger Mann nahm seine Keule und schaute nach den [120] Frauen, die in großer Furcht nebeneinander hockten (denn sie hatten die Worte des Königs vernommen). Er suchte sich Talingo – die Vergessene – aus, die Tochter von Takape; er winkte ihr mit der Keule und sagte: »Komm, Talingo; der König läßt dich rufen.«
Das Mädchen erhob sich; es trug seinen Säugling an der Brust und ging langsam auf das Hinterschiff, wo der König saß. Doch in dem Augenblick, wo die Keule zum Schlage ausholte, sprang es mit einem schrillen Schrei ins Meer und sank mit seinem Kinde unter.
»Meinen Speer! Her mit dem Speer!« rief der König. »Gebt mir meinen Speer! Haha! Mit diesem Haken werde ich den Fisch schon fangen.« Grimmig lachend schwang er den Speer, den linken Fuß nach vorn gesetzt, und blickte gespannt ins Wasser, wo es wieder emporkommen sollte.
Doch es tauchte unterm Boot durch und kam zwischen den beiden Bootkörpern in die Höhe; hier blieb es, verhielt sich ruhig und hielt sich an den Verbindungsbalken unter dem Deck fest. Da sagten die andern nach einer Weile: »Die Haie haben sie samt dem Kinde gefressen. Die kommt nicht wieder.«
Doch Talingo hielt sich verborgen, bis es dunkel wurde. Und in ihrem Versteck vernahm sie das Krachen der Keule, den Todesschrei des Getroffenen und das Geschwätz der Mannschaft, als sie das Opfer zubereiteten. Denn als der junge Mann, namens Faha, den König fragte und sagte: »Wen soll ich jetzt nehmen, denn die Haie haben das Mädchen verschlungen, und wir müssen essen«, da blickte der König ihn in wilder Wut an und schrie: »Jawohl, wir müssen essen. Und dich, ja, dich wollen wir essen. Warum schlugst du nicht zu, als es ins Wasser sprang?« Und mit diesen Worten durchbohrte er ihn mit dem Speer, den er in der Hand hielt. Da hörte Talingo den Todesschrei und den dumpfen Schlag mit der Keule.
Als es dunkel geworden war, schwamm sie leise fort. Die Steuerpaddel, welche einsam und verlassen auf dem Hinterschiff [121] lag, während die Mannschaft schmauste, nahm sie mit. Sie legte das Kind auf das breite Blatt, hielt es mit der Hand fest und trieb so in der Dunkelheit fort; wohin wußte sie selbst nicht.
Vier Tage lang trieb sie so umher. Sie weinte, säugte ihr Kind und wehrte die großen Seevögel ab, welche oft bedenklich nahe um sie herumflogen; und trotz aller Sorgsamkeit stieß doch einer auf das Kind nieder und hackte ihm mit dem Schnabel ein Auge aus. Vier Tage lang trieb sie also umher; da, am Morgen des fünften Tages, warfen die Wellen sie auf das Riff von Ono. Talingo sammelte noch einmal ihre Kräfte, sie tauchte unter den Brechern durch und schwamm quer durch die Lagune. Bei Onolewu landete sie. Dort kroch sie auf den Strand hinauf und sank mit ihrem Kinde am Fuße einer Palme nieder.
Nun wohnte da im Dorfe ein alter Mann, namens Tausere; der hatte eine Frau, die hieß Senirewa; und ihr Haus war leer, denn sie hatten keine Kinder. Gerade diesen Morgen mußten die beiden an den Strand, um ihr Boot ins Wasser zu schieben, denn sie wollten fischen. Da bemerkte der alte Mann die schlafende Talingo mit ihrem Kinde unter der Palme.
»Wer ist das?« rief er und beugte sich über sie. Er mußte weinen, als er nun sah, daß das arme Mädchen tot war und das Kind friedlich in seinen Armen schlummerte.
»O, Senirewa! O, Frau! Hier ist was Trauriges zu sehen!« schluchzte der alte Mann. Und auch die Frau mußte weinen.
»Das sind Fremde,« sprach sie. »Das sind Tonganer. Ein Tonga-Boot hat Schiffbruch gelitten, und sie sind hier angetrieben. Ach, ach! Sie ist noch so jung, und so hübsch. Und das Kind! Ja, Mann, du hast recht; das ist wirklich ein trauriger Anblick. Komm, wir wollen ein Grab graben und sie bestatten.«
So sprach sie; doch als sie fertig war und mit ihrem Mann da so stand und tieftraurig, mit Tränen in den Augen auf die Tote hinschaute, öffnete plötzlich das Kind [122] sein Auge und lächelte sie an. Da jauchzte ihr Mutterherz; mit einem fröhlichen Schrei sprang sie hinzu, riß das Kind von der Mutter weg, drückte es an die Brust, und abwechselnd lachte und rief sie:
»O, mein Sohn, mein Sohn! Du bist mein Sohn; du sollst mein rechter Sohn sein, die Götter sandten dich mir. Schau, Mann, das ist dein Junge! Nun brauchen wir nicht mehr zu weinen, weil unser Haus leer ist. Die Götter haben Mitleid mit uns gehabt.« Als sie das gesagt hatte, mußte sie laut vor Freude weinen.
Dann begruben sie Talingo am Strande, wo sie sich zum Sterben hingelegt hatte, nachdem das Kind gerettet war; den Jungen nahmen sie mit ins Dorf. Und als die Nachbarn herbeiliefen und alle möglichen Fragen taten – woher das Kind käme, wessen Sohn es wäre usw. –, da antworteten sie stets mit denselben Worten: »Das ist unser Sohn, unser rechter Sohn, den die Götter uns übers Meer gesandt haben« – nicht mehr und nicht weniger.
Das Kind wuchs auf und gedieh. Es wurde ein schmucker Bursch, der geschickt, flink, liebenswürdig täglich seinen Stiefeltern immer mehr Freude bereitete. Sie dankten den Göttern für das Geschenk, welches das Meer ihnen gebracht hatte, und nannten ihn Matandua, weil er ein Auge verloren hatte. Und Talingo schlief in ihrem Grabe am Strande, und die Wellen spülten darüber hinweg, wenn es Flut war. Häufig, wenn nachts der Nordwind blies, und die Leute von Ono in ihren Hütten zitterten, hörten sie eine bitterlich klagende Stimme am Strand; und wenn dieser schmerzvolle Ton durch die Luft erklang, bewegte sich der Knabe im Schlafe und stöhnte und die Tränen liefen ihm über die Backen.
Einmal faßte die alte Frau ihn bei der Hand und weckte ihn auf. Da fuhr der Junge angstvoll in die Höhe, und der klagende Ruf verstummte.
»Wo ist sie denn, die Frau?« fragte er und sah sich ganz verstört um. »Wo ist die Frau?«
[123] »Welche Frau, mein Junge?« fragte die Stiefmutter voll Sorge.
»O, Mutter!« sagte der Knabe, »war es denn nur ein Traum? Ich habe sie gesehen! Ich hörte ihr Weinen! Wie Regen tropften die Tränen auf meine Backen! Sieh, Mutter, sieh! mein Backe ist ja noch ganz naß! Das war gewiß kein Traum!« Und er wischte die Tränen mit der Hand ab.
»Das sind deine eigenen Tränen, mein Junge!« sagte sie beschwichtigend. »Du schriest im Traum, und deshalb weckte ich dich. Wer war denn die Frau? Du hast nur geträumt, mein Junge.«
»Ich habe sie gesehen! Ich sah sie!« rief der Knabe. »Es war eine große, edle, vornehme Frau. Sie hatte kein braunes und krauses Haar wie du, sondern schlichtes und schwarzes, und ihre Haut war viel heller als deine. Sie war ganz naß, als ob sie eben gebadet hätte; sie stand neben mir und weinte und rang die Hände. O, Mutter, sag, wer war die Frau? Ich glaube, ich habe sie schon einmal gesehen, und das Herz tut mir weh, wenn ich an ihr sorgenvolles Gesicht denke.«
»Wie soll ich das wissen, mein Junge?« sagte die alte Frau. »Wie soll ich das wissen? Im Traum sieht man viele fremde Gesichter. Leg dich wieder hin und schlaf, mein Kind. Laß dich nicht durch einen Traum beunruhigen.«
Der Knabe legte sich wieder hin und schlief ein; aber als seine Stiefeltern ihn während des Schlafes betrachteten, da sahen sie, daß ihm die Tränen noch immer über die Backen rollten.
»Es war seine Mutter,« flüsterte der alte Mann. »Es war seine Mutter! Sein Herz erkannte sie! Sieh, er weint noch immer. Wir wollen ihm doch lieber alles erzählen.«
»Ssch!« antwortete die alte Frau ärgerlich. »Ssch! das darf er nicht wissen. Ich bin doch seine Mutter? Habe ich ihn nicht bei Tag und bei Nacht gehegt und gepflegt? Hätte seine Mutter es etwa besser machen können? Hätte sie ihn [124] mehr lieben können? Und nun sagst du: Wir wollen ihm alles erzählen? Deine Worte sind töricht. Sie ist tot, nicht wahr? Und nun bin ich seine Mutter, und eine andere soll er nicht kennen.«
Sie vertrugen sich wieder. Häufig hörte man noch den klagenden Ton; doch niemals wurde, seit jener Nacht, der Knabe wieder geweckt, wenn er im Schlafe weinte und stöhnte. Morgens hatte er stets die Träume wieder vergessen; und wenn er wachte, weinte er auch nie.
Im Laufe der Zeit wurde aus ihm ein großer, kräftiger, brauchbarer Jüngling. Zu allen war er freundlich und nett, und er liebte seine Stiefeltern, die nun alt und schwach wurden; so machte er all ihre Liebe wieder an ihnen gut; denn sie waren vereinsamt im Lande; alle übrigen ihres Stammes, Männer, Frauen und Kinder, waren einst im großen Kriege mit den Leuten von Doi umgekommen; wenn er nicht bei ihnen gewesen wäre, hätten sie es tatsächlich sehr schlecht gehabt; denn wer würde sich von den übrigen Männern im Dorfe um sie gekümmert haben?
Doch die jungen Leute haßten ihn. Sie mochten ihn nicht leiden, weil er ihnen bei ihren schlechten Streichen nicht helfen wollte und sich nicht daran beteiligte.
»Geht,« pflegte er zu sagen, »und tut, was ihr wollt, niemand hält euch. Ihr seid ja genug in euren Stämmen, und für eure Alten können genügend Leute sorgen. Wir sind dagegen wenige. Unsere Angehörigen sind umgekommen, und nur ich bin ganz allein übrig und habe für die Alten im Hause zu sorgen.«
Zuerst neckten sie ihn. Dann lachte er darüber und wiederholte seine Worte: »Geht, und tut, was ihr nicht lassen könnt. Niemand hält euch. Aber ich bleibe bei meinem Vater und meiner Mutter.«
Doch hatten sie auch Furcht vor ihm; denn er war stark und wohlgeübt in den Waffen. Eines Tages, als Yangolewu, der Dicke, der Sohn des Herrschers über Ono, ihn ärgern wollte und seinen Vater Tausere mit der Keule auf [125] den Kopf schlug, da sprang Matandua mit wildem Geschrei auf ihn los und hieb ihn mit den Fäusten zu Boden. Dann hob er die zu Boden gefallene Keule auf, schwang sie um den Kopf und schaute wild auf die jungen Leute – und das waren viele.
»Wer kommt nun an die Reihe?« rief er; und seine Stimme erscholl laut und klar weithin über das Land, so daß alle Leute im Dorfe ihn hörten und zum Strande gelaufen kamen. »Hier bin ich! Wer kommt jetzt an die Reihe? Hört meine Worte, Herr von Ono! Hört meine Worte, Häuptlinge! Er hat meinen Vater, den weißhaarigen, alten, gebrechlichen Mann geschlagen. Und ohne Ursach' schlug er ihn.«
»Halt ein!« sagte der König von Ono, »senke die Keule, Matandua. Hört mich an! Hört jetzt meine Worte, Jünglinge! Ihr alle, hört zu! Wollt ihr durchaus sterben? Er hat recht getan. Wer ihn daher beleidigt, beleidigt mich. Wer mit ihm kämpfen will, muß auch mit mir kämpfen. Ich habe es gesagt, ich, der König von Ono.«
Sie fürchteten ihn schon vorher wegen seiner Stärke und seines Ungestüms, nun kamen noch die Worte des Königs hinzu; und weil sie ihn fürchteten, haßten sie ihn noch mehr; und sie beratschlagten weiter, wie sie ihn wohl töten konnten. Obschon sie offen nichts gegen ihn zu unternehmen wagten, taten sie heimlich doch manches – und etliche Häuptlinge unterstützten sie dabei. Der König von Ono war ein alter, bequemer, sorgloser Mann; er besann sich nur auf sich selbst, wenn sein Zorn gereizt wurde. Und als die Landbestellung unter die Stämme verteilt wurde, erhielt der Stamm des Tausere einen vollen Anteil, obgleich sein kleiner eigener Haushalt der einzige in diesem Stamme war. Doch dabei erlebten sie nur Enttäuschung über Enttäuschung, denn der Einäugige war stets lange vor ihnen mit der Arbeit fertig. Sollte für ein großes Fest gefischt werden, dann waren die Reusen des Jünglings stets brechend voll, während ihre noch leer waren; denn Talingo half ihm und trieb die Fische von den Reusen der andern weg in seine hinein. Oder wenn [126] Holz gefällt werden mußte, dann brannte das Feuer, welches er um seinen Baum anzündete, denselben in einer Nacht um, weil Talingo danach sah, und die andern fielen erst nach vielen Tagen nieder. So ging es mit allem; und als der Oberpriester das Volk zusammenrief und ihm verkündete, es müßte für die Götter ein neuer großer Tempel gebaut werden, da freuten sich die Feinde Matanduas unbändig.
»Nun kriegen wir ihn,« sagten sie, »die Aufgabe kann er doch nicht lösen.«
Die Arbeit wurde in einzelnen Losen verteilt. Tauseres enthielt die Fertigstellung einer ganzen Seite des Tempels. Da lief er weinend nach Hause, wo seine Frau dem Jüngling das Haar kämmte und ihn mit wohlriechendem Öl salbte; weinend erzählte der Alte, wie es ihm ergangen war und was er nun zu tun hätte.
»O,« stöhnte die alte Frau. »Eine ganze Seite? Halten sie uns denn für Götter? Wo sollen wir denn bloß das Tauwerk herbekommen? Wie sollen wir nur die Pfosten tragen? Soll denn niemand uns dabei helfen?«
»Niemand,« antwortete Tausere, »niemand, nicht mal ein Kind! O, die Häuptlinge hassen uns. Sie wollen uns vernichten. Laß uns nur gleich sterben und ein Ende machen? dann werden die Herren zufrieden sein. Matandua, hab' Mitleid mit uns; bitte, erdroßle uns, wir sind ja alt, schwach und nutzlos.«
»Ja, das ist gut,« jammerte die Frau. »Mein Sohn, höre, was dein Vater sagt. Bitte, erdroßle uns, damit wir sterben können.«
»Im Gegenteil!« rief der Einäugige. »Ihr sollt leben bleiben! Wir wollen es noch einmal versuchen, und wenn es für uns zu schwer ist, dann wollen wir zusammen in ein anderes Land flüchten. Wenn wir dann auf dem Wasser umkommen, oder die Bewohner des Landes, zu dem wir kommen, uns totschlagen, einerlei, einmal können wir doch nur sterben. Also wollen wir es noch einmal versuchen.«
»Schön!« sagte Tausere. »Wir wollen es versuchen. Es [127] wird wohl nutzlos sein; aber diesmal wollen wir es doch noch mal versuchen. So, hier hast du Kokosfaser. Und nun wollen wir uns Taue drehen.«
Sie setzten sich also im Hause hin und begannen die Arbeit. Jedesmal, wenn sie die Fasern drehten, wurde ein Meter schönen sauberen Tauwerks fertig; da arbeiteten sie in einer Verwunderung und großer Ehrfurcht, denn es war klar: ein Gott half ihnen. Und noch ehe der Abend sich über das Land senkte, war der ganze Boden im Hause mit dem schönsten, prächtigsten Tauwerk in allen nur möglichen Farben bedeckt.
»Nun ist's genug!« rief Tausere, und sie wickelten es zu einem großen, schweren Ballen auf. »O, welch ein Wunder! Frau, was mag es bloß sein? So etwas hat man ja noch nie erlebt.«
»Das ist die Mutter,« antwortete die alte Frau. »Das muß seine Mutter sein. Wer würde denn sonst von den ›Abwesenden‹ für ihn sorgen?«
»Du magst recht haben,« sagte der Mann, »aber einerlei, ob es die Mutter oder sonst wer war, eins ist klar – das war ein glücklicher Tag für uns, als wir das Kind am Strande fanden. Doch jetzt wollen wir schlafen, es ist schon spät, und morgen früh geht es an eine neue, große, schwere Aufgabe.«
Am nächsten Tage gingen sie fort, um Bäume für die Tragepfeiler zu fällen. Als sie eine Anzahl geeigneter Bäume gefunden und noch nicht einmal Feuer angemacht hatten, um sie niederzulegen, da fegte plötzlich eine wilde Bö durch den Wald, und im Augenblick wurden die Bäume umgerissen; sie lagen zu ihren Füßen, die Zweige und Äste waren sämtlich abgebrochen und die Pfeiler zum Gebrauch fertig. Sie wunderten sich auch, als sie die Pfeiler aufhoben, denn die großen schweren Stämme waren so leicht, wie dünne Stöckchen; sie trugen sie ins Dorf hinab und warfen sie an der Stelle hin, wo der Tempel errichtet wurde. Das Volk war maßlos erstaunt.
[128] »Was für eine Art Holz mag das sein?« sagten sie, »daß sogar der alte Tausere solch schwere Stämme tragen kann?« Und als sie versuchten, einen aufzuheben, da waren selbst die beiden stärksten Männer nicht imstande, auch nur das Ende des kleinsten Pfeilers aufzunehmen.
Auf diese Weise wurde dem Tausere und Matandua alles erleichtert, und sie konnten ihre Arbeit gemütlich beendigen; ja, häufig mußten sie sogar noch darauf warten, daß die übrigen Stämme erst mal die anderen Seiten des Tempels fertig machten, die ihnen zugefallen waren.
Schließlich besprachen die jungen Leute sich untereinander und sagten: »Was wir bis jetzt taten, ist alles nutzlos, wir müssen sie töten.« Sie schmiedeten ein Plan und gruben zunächst eine breite, tiefe Grube, deren Öffnung sie mit Zweigen und Gras zudeckten; nun wollten sie die beiden dahin locken, sie sollten dort hineinfallen und umkommen. Aber als sie fertig waren und munter zum Dorfe zogen – die Sonne war schon untergegangen, und der Mond schien hell und klar – da erblickten sie plötzlich im Wege eine wunderschöne unbekannte Frau, die wie eine Tonganerin aussah; ihr Leib war naß, als ob sie eben aus dem Meere herausgestiegen sei, und die Wassertropfen glitzerten im Haar – so trat sie ihnen auf dem Wege entgegen und hatte eine große Steuerpaddel in der Hand.
»Wer bist du?« schrie der »Dicke« sie an, der vornweg ging, während die andern ihm folgten. »Wer bist du denn? Warum antwortest du nicht?« Denn die Frau sprach kein Wort; und als er auf sie zulief, da drehte sie sich um und verschwand im Walde.
»Greift sie!« rief der Sohn des Herrschers von Ono und stürzte hinter ihr her; und die jungen Leute folgten ihm unter lauten Rufen.
Die Frau eilte durch den Wald und entwischte ihnen. Dann erschien sie wieder hinter ihnen und lief nach der Grube, welche sie ausgehoben hatten, und sie rannte darüber hinweg, als ob es fester Boden gewesen wäre; die jungen [129] Leute hefteten sich an ihre Fersen, und im Eifer vergaßen sie ganz die Grube. Da, plötzlich ertönte ein fürchterliches, lautes, wildes, schrilles Lachen –, der »Dicke« fiel mit zehn Gefährten kopfüber in die Grube, welche sie für den Einäugigen gegraben hatten. Nun machten die letzten kehrt und flohen unter Schreckensrufen zum Dorfe zurück.
»O, böser Tag!« rief der Herr von Ono bei dieser Nachricht. »Mein Sohn ist tot! O, böser, verhängnisvoller Tag!«
Er rief etliche Leute herbei und ging mit ihnen in den Wald. Als sie an den Rand der Grube kamen, vernahmen sie ein erschütterndes Gestöhn. Drei Jünglinge waren tot, und die übrigen lagen schwer verwundet neben den spitzen Pfählen, die sie für den Einäugigen am Boden eingegraben hatten. Einer hatte dem »Dicken« das Knie zerschlagen, so daß er für immer lahm blieb. Nun nannte man ihn nicht mehr Yango-lewu, den Dicken, sondern Loki-Loki, den Lahmen.
In dieser Nacht wurden in Ono viele Tränen vergossen; als aber Tausere davon hörte, sagte er zu seiner Frau: »Das war seine Mutter. Siehst du, wie sie über ihn wacht!« und beide freuten sich. Ferner hörte man in der Nacht, als der Mond hoch oben am Himmel stand, vom Strande her eine Stimme ertönen, als ob jemand dort ein Lied sänge – ein wildes Siegeslied in tonganischer Sprache. Und Matandua lächelte im Schlafe; er schüttelte die Hand, als ob sie einen Speer umfaßt hielte.
Niemand kannte auf Ono das Lied oder wußte, was es bedeutete; der einzige war Watui in Wawau, der vor vielen Jahren von Tonga in einem fürchterlichen Sturm auf einem großen Boot nach Ono getrieben war. Als junger, mutiger, starker Mann war er auf Ono gelandet; nun hockte er, ein schwacher, blinder Greis, den ganzen Tag über in der Hütte des Königs und hörte nichts, sah nichts und sprach kein Wort. Doch als die ersten Töne dieses furchtbaren Liedes durch die Nacht an sein Ohr drangen, da fuhr er mit einem entsetzlichen Schrei in die Höhe. Er stellte sich vor ihnen hin, schaute mit seinen erloschenen Augen um sich [130] und zitterte vor Erregung am ganzen Körper – es war ein erbarmungswürdiger Anblick.
»Ist der Tod im Dorfe?« fragte er mit hohler Stimme. »Schlägt man Menschen tot? fließt Blut? Wehe, wehe, wehe dem Lande! Ich kenne es! Ich kenne dies furchtbare Lied! Ich hörte es an einem blutigen Tage. Ich hörte es, als die Feinde unsere Feste einnahmen und darauf alles totschlugen. Sie sangen es, als sie die Erschlagenen zum Schmause wegtrugen. Es ist, ›das Lied des Todes‹!«
So sprach Watui; und niemals sprach er wieder; Blut stürzte ihm aus dem Munde, als er auf die Matten niedersank; und als man ihn aufhob, – da war er tot.
Große Furcht befiel das ganze Volk; und die jungen Leute planten keine Anschläge mehr gegen Matandua; sie waren furchtsam geworden.
Einmal noch versuchten sie es. Das war an dem Tage, wo sie nach Thakau Lala, dem leeren Riff, fuhren, um Schildkröten für das Tributfest zu fangen, das man den Herren von Lakemba geben mußte. Den ganzen Tag fischten sie vergeblich (sie hatten nur eine gefangen), und da verankerten sie die Boote während der Nacht auf dem Riffe und warteten auf den Morgen. Als das Wasser abgelaufen war, versammelten sich die jungen Leute um das Königsboot, sangen ihre Lieder und erzählten sich, wie es so Sitte ist, Geschichten aus alter Zeit; doch der »Einäugige« blieb auf seinem Boote und schlief dort allein ein.
Nun sollte es so kommen, daß der »Dicke« mit seinem Gefolge gerade an dem Boote vorüberkam; als er ihn, den er von Herzen haßte, allein im Boote schlafen sah, wollte er vor Freude laut aufjauchzen; er schlich leise zum Pfosten, an dem das Boot vertaut war, löste das Halteseil, und seine Gefährten nahmen die Paddeln fort; da trieb das Boot langsam in die Dunkelheit hinaus, denn das Wasser lief noch immer ab; es entstand eine starke Strömung, und vom Lande her wehte ein leiser Wind.
»Lebe wohl, Einäugiger!« rief der »Dicke« mit grimmem [131] Lachen, und auch die anderen stimmten mit ein. »Lebe wohl, Einäugiger! Schöner Wind! Glückliche Reise!« Doch der Einäugige hörte ihn nicht; er war fest eingeschlafen.
Während er schlief, träumte er einen Traum. Er träumte, daß er in einem leeren Boote weit in die See hinaustrieb, und als er nach seinen Paddeln sehen wollte, sie verschwunden waren. Ihm wurde ungemütlich zumute, wie das Land hinter ihm verschwamm, und vor, hinter und um ihn herum nur eine weite Wasserwüste sich ausdehnte.
Als er da vor lauter Verzweiflung an Deck niedersank, gewahrte sein Auge auf dem Kamm einer weit entfernten Welle einen dunklen Fleck; und als er angestrengt danach ausschaute, bemerkte er, daß er langsam auf ihn zukam; das Herz klopfte, und er wußte nicht, warum. »Das scheint ein schwimmender Mensch zu sein,« dachte er so bei sich; doch es war etwas viel Wunderbareres. Im Traum erblickte er eine wunderschöne, hellglänzende Frau, die kam auf ihn zu und schob ein breites Steuerruder vor sich her, darauf saß ein Kind, dessen Gesicht mit Blut beschmutzt war, das aus dem verletzten Auge herauströpfelte. Als sie nahe an das Boot herangekommen war, tauchte sie unter und verschwand. Nun vernahm man unter dem Deck zwischen der Luv- und Leeseite des Bootes ein bitterliches Weinen; er wollte aufstehen und nachsehen, doch schien es ihm, als ob er sich nicht im Traum bewegen konnte; er versuchte es und heller Schweiß quoll ihm aus den Poren – er mußte in angstvoller Qual fest liegen bleiben. Mit einem Male hörte er eine traurige Stimme rufen:
»Matandua! Matandua! O, mein Sohn, mein Sohn Matandua!«
»Bist du es, Senirewa, Mutter?« fragte er ganz erstaunt. »Nein, mein Sohn,« antwortete die Stimme, »ich bin nicht Senirewa. Ich bin deine Mutter, mein Sohn, mein lieber Sohn – deine rechte, wahre Mutter, ich bin Talingo!«
»O, die Stimme kenne ich,« rief der Jüngling und träumte weiter, »die Stimme kenne ich! Doch was erzählst du mir [132] da jetzt für eine wunderbare Geschichte? Ist Senirewa denn nicht meine Mutter? Ist Tausere nicht mein Vater? mit denen ich mein ganzes Leben verbrachte?«
»Nein, mein Sohn, nein!« sagte die Stimme ernst und erregt. »Ich bin allein deine Mutter. Die beiden sind gute Menschen. Ich habe sie lieb, weil sie dich lieb haben. Doch ich bin allein deine Mutter, ich, Talingo. Höre zu, mein Sohn, ich will dir alles erzählen.« Sie fing von vorn an und erzählte ihm, wie sie als junges Mädchen von einem grausamen Häuptling geraubt wurde, der am selben Tage ihren Vater erschlagen hatte; wie sie über Bord sprang, um nicht gefressen zu werden; wie sie beide nach Ono getrieben waren; wie sie Tag und Nacht ihn behütet, ihm bei seinen Arbeiten geholfen und ihn aus Tod und Gefahr errettet hatte. Alles, alles erfuhr Matandua nun in seinem Traum.
»Und nun, mein Sohn,« fuhr die Stimme fort, »sollst du erfahren, daß der ›Dicke‹ dich hat abtreiben lassen; es ist nicht gut für dich, in dem Lande zu bleiben, wo er haust, denn der Name des Herrn von Ono ist im Geisterlande aufgerufen worden – der Bote ist unterwegs, der ihn dahin entbieten soll – und dein Feind wird König werden, wenn sein Vater tot ist. Daher, mein Sohn, mein lieber Sohn, höre nun auf die Worte deiner Mutter, die dich lieb hat. Geh nach Ono zurück. Deine Paddeln sind dir allerdings gestohlen, aber hier hast du dies Steuerruder. Damit kannst du das Land erreichen, ehe noch die anderen Boote von ihrem Fischzug zurück sind. Geh noch einmal nach Ono zurück; und wenn du die beiden lieben Leute an Bord genommen hast, dann hisse das Segel und fahre in dein Heimatland, nach Tonga. Fürchte dich nicht, mein Sohn. Du wirst guten Wind haben, kein Unfall wird dir zustoßen; denn behütet dich nicht deine Mutter? Ich werde bei dir sein, auch wenn du mich nicht siehst. Und nun, mein Sohn, wach auf, wach auf, und denke an meine Worte.« Dabei klopfte sie mit dem Steuerruder an das Boot.
Da fuhr Matandua aus dem Schlaf empor und hörte das [133] Klopfen am Boote; er beugte sich hinaus und sah ein großes Steuerruder zwischen Luv- und Leeseite treiben, doch weiter sah er nichts.
»O, meine Mutter!« rief er, »liebe Mutter! Willst du mich so verlassen? Laß mich noch einmal dich mit Augen sehen, meine Mutter, liebe Mutter!«
Doch da war keine Stimme, kein Laut; man hörte nur das Klatschen der Wellen am Boote. Aber das Steuerruder, das er beim Handgriff zu fassen bekommen hatte, begann sich in seiner Hand nach vor- und rückwärts zu bewegen; da begriff er, daß Talingo seine Weiterfahrt begehrte. Weinend setzte er sich vorn im Boote nieder und ruderte nun mit der schweren Steuerpaddel dem Lande zu. So groß und schwer die Paddel auch war, in seiner Hand war sie so leicht wie eine gewöhnliche kleine Paddel; und das Boot flog schnell, wie vor einer schönen Brise, auf den Wellen dahin. »Da hilft mir wieder die Mutter,« sagte er.
Nun müßte ich lang und breit erzählen, was sich da alles zwischen ihm und dem alten Ehepaar ereignete, als er ihnen berichtete, daß seine Mutter ihm auf den Wellen begegnet wäre, um ihn vom sicheren Tode zu erretten. Das führt zu weit. Doch Senirewa versuchte ihn mit einem Wortschwall und Tränen zu überzeugen, daß er dies alles nur geträumt habe. Sie beteuerte von ganzer Seele, daß er ihr rechter Sohn sei und sie die Mutter, die ihn geboren hätte. Schließlich machte ihr Gatte dem allen ein Ende.
»Frau,« sagte er streng, »nun ist's genug. Lüge dem Jungen nicht länger etwas vor. Mein Sohn, die Worte Talingos sind wahr; ihre Worte sind völlig wahr. Sie, sie ganz allein ist deine Mutter. Aber wir haben dich auch lieb gehabt. Seit dem Tage, wo wir dich am Strande fanden, haben wir dich herzlich geliebt. Und du bist uns ein braver Sohn gewesen. Weine nicht mehr, Frau! Weshalb willst du weinen? Er wird uns noch ebenso lieb haben, nachdem er die Wahrheit weiß.«
»Ich habe euch immer und ewig lieb!« rief er.
[134] So gingen sie nach vielen Worten an Bord und nahmen die nötigsten Sachen mit; sie segelten unter einer schönen Brise, welche sie drei Tage lang vorwärts führte, und dann kam Tonga in Sicht. In der Nacht, bevor sie das Land sahen, hatte der Jüngling einen anderen Traum. Er träumte, daß seine Mutter im Mondlicht auf ihn zugegangen kam; diesmal schwamm sie nicht, sondern schritt behend von einem Wellenkamm zum andern über das Wasser hin, und ihre nackten Füße glitzerten im weißen Wellenschaum. Sie kam und blickte traurig in das Antlitz ihres schlafenden Sohnes; sie erzählte ihm vielerlei, wie die Dinge in Tonga ständen und was er tun müsse. Und sie hatten Unterweisungen sehr nötig; denn niemand von ihnen kannte die Inseln, weder die Riffe oder die Einfahrt – sie waren Fremde, die nach einem unbekannten Lande fuhren.
Als der weiße Brandungsstreifen in Sicht kam, da flog vom Ufer ein kleiner grüner Vogel mit einer weißen Brust auf und setzte sich auf den Kopf des jungen Mannes, der das Boot steuerte. Dann flog er wieder weg nach einer anderen Insel, deren schwache Umrisse in Lee auftauchten, und kehrte nach einer Weile zurück; so flog er viele Male hin und her.
»Laß das Segel los! Vater,« rief der Jüngling. »Wir wollen es wegnehmen und dem Vogel folgen.« Da ließ Tausere das Segel herunter; und als die Spitze des Bootes der Insel zugewandt war, setzte sich der kleine grüne Vogel auf den Kopf des Jünglings und schlief ein. Als aber das Riff in Sicht kam, erhob er sich wieder und flog geradenwegs auf die Einfahrt zu; der Jüngling fuhr hinter ihm her und brachte so das Boot durch den Einlaß im Riff in das ruhige Wasser der Lagune. Dort ging er am sandigen Uferstrand zu Anker.
Sie waren auf Tonga-Tabu, dem »heiligen Tonga«, gelandet; und das große Königsdorf lag ganz in der Nähe. Doch als sie dorthin gingen, um sich beim Könige zu melden, siehe da, das Dorf war ausgestorben und leer, die [135] Herdstellen waren kalt, die Hütten fielen ein, und Unkraut wuchs auf allen Wegen.
»Das Dorf hat der Feind vernichtet,« sagte Tausere, und seine Frau fing an zu weinen.
»Nicht doch,« sagte der Einäugige, »seit wann vernichtet ein Feind ein Dorf und brennt nicht die Hütten nieder? Hier ist kein Feind gewesen. Hier muß sich ein anderes furchtbares Unglück ereignet haben, denn hier ist das Dorf für die Häuptlinge. Seht euch doch einmal die Häuser an, wie viele sind es nur, und wie groß sie sind! Vielleicht sind die Einwohner von einer bösen Krankheit weggerafft, der Rest ist geflohen und hat das Dorf mit den Toten im Stich gelassen.«
»Wir wollen weitergehen,« rief die Frau, »ich will nicht in diesem ausgestorbenen Dorf bleiben. Es ist ja fürchterlich, mit Toten zusammen zu sein. Sieh, mein Sohn, sieh! Da ist der Vogel wieder, der uns hierher führte. O, Herr, du hast uns in eine peinvolle Lage gebracht. Hier gibt es nur Tote. Hab' Mitleid mit uns, bitte, führe uns doch wieder zu lebenden Wesen.«
So klagte die alte Frau in jammervollem Ton; mit tränenerfüllten Augen blickte sie zu dem Vogel empor, der über ihren Häuptern schwebte; und als sie zu Ende war, flog er weg.
»Wir wollen dem Vogel folgen,« sagte Matandua.
Sie folgten ihm und gingen durch das Dorf; und als sie durch das Tor in der Kriegsumwallung geschritten waren, gelangten sie in den Wald. Sie kamen über einen großen Hügel, darauf in ein Tal. Da stieg der Vogel plötzlich mit einem schrillen Schrei in die Lüfte und flog auf ein Dickicht zu, das sich auf dem anderen Ufer des Baches befand, der durch das Tal floß. Sie wateten durch das Wasser; und als sie an das Dickicht kamen, o, welch trauriger Anblick bot sich ihnen da! Es war wirklich bejammernswert, was sie da zu sehen bekamen; denn dort saß eine Schar verhungerter, elender, trauriger Menschen. Sie saßen im Grase und schauten [136] mit glanzlosen Augen auf einen Gefährten, der sterbend in ihrer Mitte lag. Es war ein ganz alter Mann; seine Brust rang nach Atem und sein graues, völlig verschmutztes Haar breitete sich über dem Boden aus.
Die Haltung des Einäugigen war ernst, sein Auge funkelte, als er in den Kreis trat und sich über den sterbenden Häuptling beugte; denn er erkannte ihn; er hatte alles vorweg im Traume geschaut, den er in der letzten Nacht gehabt hatte ehe sie das Land sahen, als seine Mutter auf den Wellen zu ihm gekommen war.
Seine Haltung war ernst und sein Auge funkelte; mit einem halberstickten Schrei voller Schrecken richtete der alte Mann sich zum Sitzen auf, doch blickte er mit angsterfüllten Augen nicht auf ihn, sondern auf den Vogel, der sich wieder auf seinem Kopfe niedergelassen hatte.
»Jagt sie weg! Tragt sie fort!« schrie er mit schriller, furchtsamer Stimme; seine Glieder bebten und zitterten, und Schaum trat ihm auf die Lippen. »Haltet ihre Hand fest! Nehmt ihr das Steuerruder weg! Soll sie mich denn damit erschlagen?« Dann fuhr er wimmernd fort: »Warum willst du mich erschlagen, Talingo? Ich war es ja nicht! Es war der junge Faha. Ich habe ihn deshalb getötet. Ich habe ihn mit dem Speer durchbohrt. Gnade, Talingo, Gnade, ich bin ein alter, schwacher Mann.«
Dann streckte er unter verzweifeltem Schreien seine Hände weit aus, um den Schlag abzuwehren und fiel tot hintenüber.
»Er war mein Vater,« sagte der junge Mann und sah auf den Entseelten hinab. »Er ist mir ein schlechter Vater gewesen. Ich wollte ihn töten, denn er hat meine Mutter ermordet, die Talingo; doch nun haben es die Götter mir abgenommen.«
»Bist du wirklich der Sohn der Talingo?« fragte ein weißbärtiger alter Mann. »Der Talingo, der Tochter des Takape? Wie ist das nur möglich? Ihr einziges Kind war noch ein Säugling an ihrer Brust, als sie ertrank, und [137] beide starben gemeinsam. Ich habe es gesehen, ich, Anga-tonu, der ›Gerechte‹.«
»Ich bin der Sohn von Talingo,« lautete die Antwort, »und der Tote hier ist mein Vater. Hört meine Worte, ihr Leute von Tonga, und ihr sollt wissen, wie sich das alles zutrug.« Und darauf erzählte er ihnen alles.
»Das ist eine wundersame Geschichte,« sagte der alte Mann, als er geendet hatte. »Wirklich, wir haben heute eine wundersame Geschichte vernommen. Ich würde dich nach unserem Brauche mit einem ›Glückliche Fahrt‹ begrüßen, aber weshalb sollte ich deiner spotten? Du bist in ein zerstörtes Land gekommen. Die wenigen, welche du noch hier siehst, sind die Überbleibsel des Todes. Und nun ist auch unser König dahin! Du bist sein Sohn und solltest jetzt König sein. Aber hat das noch einen Zweck? Die Krieger sind erschlagen und wurden aufgefressen, und nur die Frauen leben noch.«
»Was sind das für Worte?« rief der Sohn von Talingo. »Was für Sachen erzählst du mir denn da? Warum habt ihr das Dorf verlassen? Weshalb versteckt ihr euch so im Walde? Wo sind die übrigen Leute?«
»Tot! Tot!« schluchzte der Graubart, »sie sind alle tot. Häuptlinge und Diener, jung und alt, alle, alle sind dahin. Wir sind allein noch übrig – wir und die Frauen; und die wurden uns auch genommen.« Dabei fingen alle zu wehklagen an, und die ganze Schar weinte bitterlich.
»Vor acht Monaten,« fuhr Anga-tonu fort, »hielt das Verderben seinen Einzug in unser Land. Wir lebten glücklich und zufrieden in Überfluß und Reichtum, da kam über das Meer ein furchtbarer, schrecklicher Riese gezogen. Er watete durch das Meer; nur selten brauchte er zu schwimmen, denn seine Füße berührten den Meeresboden, und Kopf und Schultern ragten über den Wellen empor. Wir wissen nicht, woher er kommt; doch sein Gesicht ist weiß, und er redet unsere Sprache wie ein Fremder. Als er das Land betrat, kämpften wir mit ihm; doch er lachte über [138] unsere Speere, Keulen und Pfeile, er wehrte sie von sich ab, wie man eine Mücke wegjagt, und selbst der Stärkste vermochte kaum seine Haut zu verletzen. Er tötete unser Volk; er erwürgte sie mit den Händen und zertrat sie mit den Füßen – o, es war ein furchtbares Blutbad! Da flohen wir vor ihm; nun holte er sich die Frauen zusammen und schleppte sie fort. Er hat ein großes Kriegslager errichtet, darin lebt er mit unseren Frauen, mit unseren Frauen und Töchtern, und sie sind seine Dienerinnen. Und uns jagt er im Walde, Tag für Tag tötet er einige von uns, einen nach dem anderen, und frißt die Erschlagenen auf. Deshalb haben wir uns versteckt. Du siehst nun, wie wenige Elende und Kranke noch übrig sind. Wir dürfen nicht an den Strand gehen und auf dem Riff fischen, sonst tötet uns der Riese. Darum leben wir nur noch von den Wurzeln, welche wir in den Wäldern finden; wir müssen sie roh essen, wir dürfen kein Feuer anzünden, damit der Rauch uns nicht verrät. Auch hat der Riese ein Teufelchen bei sich, das ist ein weißer Vampir; der hilft ihm, der hütet ihn und paßt im Lager auf, wenn er fort ist, und wacht, während er schläft. Im Anfang pflegten wir an die Umzäunung heranzukriechen und die Frauen zu rufen, die uns etwas zu essen geben sollten, doch stets entdeckte uns der fürchterliche Vampir, und viele wurden getötet, ehe sie sich vor dem Riesen verstecken konnten. Es ist daher besser, daß du fliehst, ehe noch der Riese von deinem Kommen unterrichtet ist; denn wenn er davon erfährt, mußt du ganz bestimmt sterben. Geh daher mit deinen beiden Freunden zum Boot zurück und entkommt noch lebend aus diesem bösen Lande. Wenn du mit irgendeinem von uns Elenden Mitleid hast, dann nimm soviel dein Boot nur zu tragen vermag mit, und rette ihr Leben. Ich bin alt und unnütz. Ich will hierbleiben. Wem macht es etwas aus, wenn ich meinem toten Herrn folge? Heute, oder morgen, oder an einem andern Tag! Während seines ganzen Lebens habe ich im Krieg und Frieden, zu Wasser und zu Lande zu seinem Gefolge gehört; wir haben nebeneinander [139] gekämpft, wir haben miteinander gegessen, nun soll uns auch der Tod nicht scheiden. Ein Grab soll uns beide umschließen. Er war ein harter und grausamer Mann. Doch was schwatze ich? Er war mein Herr, und ich sein Diener. Anga-tonu hat gesprochen.«
Nun entstand ein langes Schweigen, dann redete Matandua.
»Das ist allerdings,« sagte er »eine höchst traurige, bejammernswerte Geschichte. Hört nun mich an. Ich will mit dem Riesen kämpfen. Wenn ich sterbe, dann hat die Sache ein Ende. Aber wenn ich leben bleibe – was dann? Wollt ihr mir treu ergeben sein, und mir das geben, was mir dem Rechte nach zusteht, nachdem mein Vater tot ist?«
»Wir wollen dir treu ergeben sein,« sagte der Graubart; und »wir wollen dir treu ergeben sein«, sagten auch alle übrigen.
»Aber weshalb willst du in den Tod gehen?« rief Anga-tonu. »Du gehst in den Tod, wenn du den Riesen aufsuchst. Und du bist doch nur ganz allein aus königlichem Blute übriggeblieben. Warum willst du denn sterben? Fahre doch in ein anderes Land und bleibe da, bis die bösen Zeiten vorüber sind. Der Riese wird nicht ewig leben bleiben; wenn er tot ist, kannst du mit deinen Kindern wiederkehren und das Land bevölkern. Fliehe, solange es noch Zeit ist, ich beschwöre dich, damit das Licht von Tonga nicht für immer erlöschen muß. Kalo-Fanga, mein Sohn, steh' auf und folge deinem Herrn. Sei du ihm, was ich seinem Vater gewesen bin. Beschütze und beschirme ihn. Dein Auge soll sein Wächter, dein Arm seine Keule und dein Leib sein Schild sein. Und ihr anderen geht auch; folgt eurem Herrn in andere Länder. Beschützt ihn gut, und bringt ihn im Frieden, wenn der Riese tot ist, wieder hierher, damit er das Land seiner Väter beherrschen kann. Meine Tage sind gezählt, mein Werk ist vollbracht. Ich werde meinem König folgen, der tot hier vor uns ruht.«
Das waren die Worte des Gerechten. Darauf erhob sich [140] Kalo-Fanga aus dem Grase; er kniete vor seinem neuen König nieder, küßte ihm die Hand und sagte: »Ich bin dein Diener, mein Herr; dein treuer Diener, jetzt und in Ewigkeit.« Auch die anderen standen auf; siebenundvierzig waren es insgesamt, und gelobten, ihm überallhin zu folgen. Nur die Alten blieben still sitzen: »Wir wollen mit Anga-tonu sterben,« sagten sie.
Nun erhob sich der junge Häuptling wieder. Die Arme weit ausgestreckt, das Auge leuchtend, redete er; seine Stimme klang laut und hell, so wie an dem Tage, als er den »Dicken« zu Boden geschmettert und den jungen Leuten von Ono entgegentrat.
»Ich will nicht fliehen!« rief er. »Soll der Sohn eines Königs wie ein Feigling fliehen und sein Volk dem Verderben überlassen? Die Kinder von Feiglingen könnten ja mit Recht mit den Fingern auf mich weisen! Aber warum schwatze ich hier noch? Jetzt ist für Worte keine Zeit. Komm, Kalo-Fanga; führe mich zum Mörder meines Volkes!«
Die beiden wanderten nun durch den Wald und ließen die anderen mit Tausere und seiner Frau im Dickicht zurück. Der Einäugige sprach kein Wort, bis die Kriegsumwallung in Sicht kam. Dann sagte er zu Kalo-Fanga: »Bleib hier und paß auf! Wenn der Riese mich tötet, dann geh zurück und berichte es deinem Vater; wenn ich ihn aber erschlage, dann wollen wir im Triumph zu unseren Freunden zurückkehren.« Und er wandte sich zum Gehen; doch Kalo-Fanga ergriff seine Hand und hielt ihn an.
»Nicht so, mein Herr!« rief er, »laß mich mit dir ziehen. Verbiete es nicht. Ich muß mich schämen, wenn du allein gehst.«
»Es muß sein!« sagte er junge König in befehlerischem Ton und ging auf die Umwallung zu. »Tu, wie ich dir befohlen habe; bleib' dort stehen und warte den Ausgang ab!«
»O, o!« sagte Kalo-Fanga; er sank unter einem großen Baum nieder und weinte, »nun geht er in den Tod! Aber ich werde niemals zu meinem Vater wieder zurückkommen. [141] Ich kann doch nicht zurückkehren und ihm berichten, daß mein Herr starb und ich nicht bereit war, mit ihm zu sterben?«
Der junge König schritt kühn auf die Umwallung los; und als er dort eintrat, gewahrte er einen großen, weißen Vampir, der mit einem fürchterlichen Geschrei aus dem Wipfel einer Palme heraus nach dem Meere zu flog; da kamen die Frauen aus den Hütten gelaufen – es war eine große Menge, alle die Frauen von der Insel, welche der Riese sich zusammengeholt hatte.
Sie wunderten sich sehr, als sie den Fremdling in der Umwallung bemerkten; sie drängten sich um ihn und beschworen ihn, doch zu fliehen; so eifrig hatten sie es damit, daß sie nicht einmal fragten, woher er käme.
»Flieh!« sagte eine, »solange es noch Zeit ist!«
»Der Riese wird dich töten!« rief eine andere.
»Der Vampir hat ihm deine Ankunft gemeldet!« schrie eine dritte.
»Sieh! da kommt er!« kreischte eine vierte; und damit flohen sie alle hinweg und ließen ihn ganz allein in der Umwallung.
Und nun erschien vom Strande her, wo er nach Schildkröten auf dem Riffe gefischt hatte, der Riese; Zorn leuchtete in seinem Blick, hastig war sein Schritt, und die Erde erbebte unter seinen schweren Tritten.
»Jetzt sollst du sterben!« brüllte er und fuhr auf den jungen König los. Der blieb ruhig stehen und sah ihm mit festem Blick ins Auge. Er sprang gewandt beiseite, als der Riese vorwärts eilte, und schlug ihn gehörig auf die Sehnen hinter den Knieen; da fiel er aufs Gesicht lang hin; und ehe er sich erheben konnte, hatte ihm der junge König noch zwei weitere Schläge mit der Keule an derselben Stelle verabfolgt. Das war seine schwache Stelle; Talingo hatte sie ihrem Sohn verraten, als sie ihm im Schlafe erschienen war.
Mit einem fürchterlichen Geheul erhob sich der Riese wieder auf die Beine und fuhr auf seinen tapferen Gegner los. [142] Nun vernahm man ein lautes Geschrei; aus dem Walde kam Kalo-Fanga herbeigesprungen und schwang seine Kriegskeule überm Kopfe.
»Hier bin ich!« rief er. »Hier bin ich! Ich konnte nicht mehr warten, Herr! Wir wollen gemeinsam sterben!«
»Seine Kniee! Seine Kniee!« rief sein Herr. »Schlag ihn auf die Kniee! Hinter seine Kniee, Kalo-Fanga!«
Jetzt kämpften sie alle drei. Es war ein erbitterter Kampf – der Riese brüllte und heulte und ging bald auf den einen, dann auf den andern los; sie entwischten ihm jedoch zwischen den Beinen und schlugen immer auf dieselbe Stelle los, bis er schließlich zum zweitenmal hinfiel; da jubelten sie in ihrer Siegesfreude laut auf und wollten ihm nun sein Ende bereiten.
Bei seinem Fall kriegte er einen großen Baum zu fassen, er riß ihn mit um und entwurzelte ihn völlig. Als er sich wieder erhob, ergriff er den Stamm, schwang ihn in der Luft und schleuderte ihn dann auf die beiden; sie vermochten nicht mehr auszuweichen, sie fielen hin und wurden beide in den Zweigen verstrickt.
»Aha! Jetzt habe ich euch doch!« brüllte er und lachte grimmig. Doch gerade in dem Augenblick, als er vorwärts stolperte, um die beiden zu greifen, flog ihm ein kleiner grüner Vogel ins Gesicht und hackte ihm mit dem Schnabel ins Auge; er warf die Hände in die Luft und heulte vor Schmerz auf; da machten seine beiden Feinde sich von dem Baume frei – sie waren unverletzt – und sprangen gewandt hinter ihn, der in Todesängsten mit den Füßen um sich schlug und schrie. Sie versetzten ihm zwei gewaltige Keulenstreiche – mehr waren nicht nötig – er fiel der Länge nach über den Baum hin und stand nun nicht wieder auf.
»Ein Tau! Ein Tau!« rief der junge König. »Bringt mir ein Tau!« Jetzt huschten die Frauen aus den Hütten heraus und schleppten das lange Tau von einem Schildkrötennetz herbei. Der Häuptling warf es dem Riesen, der sich heftig [143] dagegen wehrte, über den Kopf, und nun fand der Kampf ein schnelles Ende; sie zogen an beiden Enden des Seils und erdrosselten ihn ohne große Schwierigkeiten. So endete dieser furchtbare Menschenschlächter und Menschenfresser.
Da erhob sich auch mit einem entsetzlichen Gekrächz der Vampir vom Baum, wo er solange während des Kampfes gesessen hatte, und flog nach der See zu; er ist nie wieder nach Tonga zurückgekehrt.
Unterdessen saßen Anga-tonu, Tausere und seine Frau und das übrige Volk in angstvoller Erwartung im Dickicht; sie hatten die Köpfe gesenkt, einer wagte dem andern nicht ins Gesicht zu sehen, denn darin mußte ja die helle Verzweiflung zu lesen sein; dann und wann vernahmen sie ein Geräusch, ähnlich dem Säuseln des Nordosts in einer ruhigen Nacht, doch das war nur ihr eigenes Geseufze. In trauervollem Schweigen hockten sie da und erwarteten die Todesnachricht; plötzlich erhob das Weib den Kopf und lauschte, dann erhob sie sich mit freudigem Geschrei.
»Er lebt! Er lebt!« rief sie. »Ich höre seine Stimme.« Und in der Ferne erklangen im Walde, bald näher, bald ferner, jetzt verstummend, dann wieder anwachsend, viele Stimmen, die sangen ein den Tonganern wohlbekanntes Lied.
»Es ist das Lied des Todes!« rief der Gerechte. »Er lebt! Er hat gesiegt!« Sie erhoben sich, und als der junge König und Kalo-Fanga in Sicht kamen, stimmten sie alle in das erschütternde Lied ein. Die beiden hatten das Haupt des Riesen auf einen Fischspeer gesteckt und trugen es hocherhoben in der Luft; die Frauen folgten ihnen, und die Wälder hallten von ihren Triumphgesängen wieder; und über allen schwebte eine dicke schwarze Rauchwolke; sie hatten das Dorf in Brand gesetzt und die Palisadenpfähle der Kriegsumwallung um den Leichnam des Riesen zusammengetragen, damit die Flammen ihn vernichteten.
So wurde Tonga von der furchtbaren Plage befreit, welche der Zorn der Götter gesandt hatte.
Noch am selben Tage kehrten sie in ihr leeres Dorf zurück [144] und fingen an, die Häuser auszubessern; sie arbeiteten tüchtig Tag und Nacht, bis alles wieder in Ordnung war. Dann setzten sie den jungen König unter großen, fröhlichen Feierlichkeiten als Herrscher und Nachfolger seines Vaters ein, der nun auf der Höhe eines weit über die See schauenden Hügels begraben lag.
Und nun begann seine Herrschaft; er nahm sich das schönste Mädchen im Lande, Tauki, die »Fröhliche«, zur Frau, und bald sah man eine Reihe Kinder im großen Hause auf den Matten spielen. Er hatte nur eine Frau – sie und keine andere. Als seine Stiefmutter zu ihm sagte: »Nimm dir doch noch mehr Frauen, Herr, damit du mehr ›Tapa‹ gemacht bekommst«, schüttelte er den Kopf und lachte.
»Tapa ist schön, aber Ruhe und Frieden sind besser,« antwortete er.
Und die Frauen gebaren von dem Riesen auch viele Kinder. Sie wuchsen zu mächtigen Männern heran und wurden die Stützen des Landes; und ehe einige Jahre verstrichen waren, war das Dorf für die Leute zu klein geworden; da teilten sie sich in drei Haufen und gründeten zwei neue Dörfer, Mua und Hihifo.
Doch ehe es soweit war, taten sich die Leute von Wawau und Haapai und anderen Inseln, als sie den Tod des Riesen erfahren hatten, zu einem Bunde zusammen; sie vergaßen einander ihre Streitigkeiten und wollten nun einen Rachekrieg gegen Tonga-Tabu unternehmen, dessen Krieger in vergangenen Tagen so viele von ihnen erschlagen hatten.
»Es sind ja nur wenige noch übrig,« sagten sie, »da wird es ein leichtes Stück Arbeit sein.«
Nun war die Furcht in Tonga-Tabu groß; viele stimmten für den Frieden und wollten sich unter das Joch der Fremden beugen. Doch der König verwarf wütend diesen Rat; er gelobte bei seiner Keule, daß er jedem, einerlei wer es sei, den Schädel einschlagen wolle, der das Wörtchen Übergabe nur aussprechen würde; so ermutigte er sein Volk.
Und als der Feind landete und sorglos in einzelnen Scharen [145] nach dem Dorfe zog, – sie dachten ja nicht im entferntesten daran, daß er mit seinen wenigen Leuten ihrer großen Menge trotzen könnte, – da fiel er sie aus einem Hinterhalt an. Als die, welche ganz hinten marschierten, erschlagen waren, erhob sich ein großes Geschrei; eine plötzliche Panik befiel den mächtigen Feind und ihm entsank der Mut; er warf die Waffen weg; die einen flohen hierhin, die anderen dorthin, und allenthalben wurden sie niedergeschlagen; sogar die Frauen eilten aus dem Dorf heraus und erschlugen die Feinde. Viele flohen zu den Booten; doch der König hatte sich ihrer versichert; er hatte sie hoch auf den Strand hinaufgezogen; da saßen sie nun voller Verzweiflung, von jeglichem Rückzug abgeschnitten, und erwarteten den Tod.
Doch der König gebot dem Gemetzel Einhalt. »Denn,« sagte er, »die Menschen können einem nur nützen, wenn sie leben, was soll ich mit den Toten? Die fallen und werden verzehrt; und damit hat ihr Nutzen ein Ende. Tötet nicht mehr!« Und so wurde die Ernte des Todes beendet.
Den Rest sandte er lebendig in die Heimat zurück; er behielt nur die bei sich, die freiwillig bleiben wollten; aber er legte ihnen einen Tribut auf, der jährlich von jedem Lande abgeliefert werden mußte.
Im nächsten Jahr erhoben sich noch einige gegen ihn; sie hatten sich verstärkt, ihre Dörfer befestigt und weigerten den Tribut. Da zog er mit seinen Kriegern gegen sie und schlug sie in einer fürchterlichen Schlacht; er machte ihre Kriegswälle dem Boden gleich und verbrannte ihre Dörfer. Doch denen, welche ihm gehorchten, war er ein gerechter und weiser Herrscher; er bedrückte sie nicht und erlaubte auch anderen nicht, sie zu bedrücken; und so wurden aus Feinden Freunde; alle Inseln brachte er so unter seinen Herrscherstab; denn er gewann sie auf zweierlei Weise – einmal durch seine Macht und dann wieder durch seine weise Regierung.
Seine Stiefeltern erreichten ein hohes Alter; der König [146] liebte und ehrte sie und war ihnen stets ein gehorsamer Sohn. Als sie starben, wurden sie im Königsgrab beigesetzt und vom ganzen Volke betrauert.
Der alte Anga-tonu lebte noch eine Reihe von Jahren nach dem Tode des Riesen; damals hatte er sein Vorhaben völlig aufgegeben, seinem alten Herrn und König im Tode zu folgen. Er wurde blind und hilflos wie Watui (der Alte von Wawau, der nach Ono vertrieben war), doch seine Sinne waren bis zuletzt klar; er wurde nie müde, der Jugend von den Taten aus alter Zeit zu erzählen. Seine Lieblingserzählung war aber die »Geschichte von Matandua, dem Einäugigen«, die immer länger und wundersamer ausgeschmückt wurde, je häufiger er sie erzählte.
Dem König gedieh alles prächtig. Die Wurzel seines Erfolges bei allen Unternehmungen lag im Rate der Talingo, die ihm noch häufig im Traum erschien, ihn vor drohenden Gefahren warnte und ihm sagte, wie er in wichtigen Angelegenheiten verfahren müßte.
Ebenso war Kalo-Fanga stets um ihn, bei Tag und bei Nacht, zu Hause und in der Fremde, im Frieden und im Kriege, auf der See und auf dem Lande. Er hielt das Versprechen, das er an dem Tage gegeben hatte, als er niederkniete, ihm die Hand küßte und sagte: »Ich bin dein Diener, mein Herr; dein treuer Diener, jetzt und in Ewigkeit.« Und er befolgte strikt die Worte seines Vaters, welche er zu ihm gesprochen hatte, als er ihn dem König übergab: »Dein Auge soll sein Wächter, dein Arm seine Keule und dein Leib sein Schild sein.«
Kalo-Fanga kam diesen Worten vortrefflich nach.
Viele Jahre waren verstrichen, die Kinder des Königs waren zu prächtigen Männern und Frauen geworden, da überkam den König eine große Sehnsucht, noch einmal nach Fidji zu fahren, um das Grab seiner Mutter zu besuchen. Er rief alle Häuptlinge zusammen, teilte ihnen sein Vorhaben mit und bestimmte seinen ältesten Sohn zum Nachfolger, wenn er nicht wiederkommen sollte. Dann nahm er Kalo-Fanga [147] und eine auserlesene Schar Krieger mit sich, hißte das Segel und fuhr nach Ono.
Dort beherrschte der jüngere Sohn des Königs von Ono das Land; der »Dicke« war schon lange tot; er war an seiner alten Kniewunde gestorben, die wieder aufgebrochen, vereitert, und zu der der Brand getreten war; und unter großen Qualen war er verschieden. Drei Monate lang blieben die Tonganer auf Ono und lebten mit den Leuten in Frieden; sie schlossen mit ihnen ein Freundschaftsbündnis, das bis heute vorgehalten hat. Dann segelten sie nach anderen Inseln und kamen schließlich nach Nairai; hier befahl der König, die Bootbindungen nachzusehen, denn er wollte jetzt nach Tonga heimkehren; doch die Götter hatten es anders bestimmt, er kam nicht wieder nach Tonga zurück. Niemand hat ihn erschlagen; kein Unfall betraf ihn; er erkrankte nicht an einem bösen Leiden; so war es: Als alles zur Abfahrt bereit war, erschien ihm zum letztenmal im Schlafe Talingo, als er sich im großen Hause in Natautoa, dem Hauptdorf von Nairai, ausruhte. Wenn sie früher zu ihm kam, hatte sie ihn stets mit traurigen Augen angesehen; doch diesmal war ihr Blick hell und fröhlich, sie winkte ihm mit der Hand, doch sprach sie kein Wort.
Kalo-Fanga fuhr im Schlaf in die Höhe, als er den König leise und schwach sagen hörte: »Lebewohl, Kalo-Fanga! Ich muß jetzt gehen, Talingo hat mir gewinkt.«
»Mein Herr redet im Schlafe,« dachte er.
Doch als er am Morgen erwachte, da lag der König tot, kalt und steif an seiner Seite; und ein glückliches Lächeln spielte um seine Lippen.
Sie wollten ihn nicht in der Fremde begraben; sie betteten ihn ins Boot, trugen Sand herbei und wollten ihn so mit in die Heimat nehmen. Kalo-Fanga hatte ihn beim Kopfe angefaßt, als man ihn unter bitteren Wehklagen hinunter zum Boote trug; und als sie ihn hinlegten, beugte er sich nieder, um ihm noch einmal die Hände zu küssen, und die Tränen rannen auf das Antlitz seines toten Herrn hinab; [148] er sank an seiner Seite nieder, und ohne einen Seufzer, ohne Kampf gab der wackere Krieger seinen Geist auf; er folgte seinem Herrn, den er über alles geliebt hatte, und holte ihn noch auf dem Wege nach Bulu, dem Land der Seelen, ein.
Sie bedeckten beide mit dem Sand, den sie an Bord gebracht hatten; sie hißten das Segel und fuhren vor gutem Wind nach Tonga, wo sie am dritten Tage ankamen. Dort setzten sie den König im Grab seines Vaters bei und begruben ihm zu Füßen Kalo-Fanga.
So starb Matandua ohne Qual und Krankheit; er war der beste König gewesen – tapfer im Kriege, weise im Frieden, fürchterlich seinen Feinden, treu seinen Freunden, und freundlich, liebenswürdig und leutselig gegen alle.
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