[80] 20. Klein Mette

Es war einmal ein kleines Mädchen, das ging und hütete die Schafe und hieß Mette. Da kam es dem englischen Prinzen in den Sinn, daß er ausziehen und sich eine Frau suchen wollte, und er kam bei Mette vorbei, wie sie am Wegrand saß und die Schafe hütete. Da grüßte er sie und sagte: »Guten Tag, Klein Mette, wie geht es dir?«

»Es geht mir gut, ich trage Lumpen über Lumpen, bis ich den Königssohn von England heirate, dann trage ich Gold über Gold.« – »Das wird nie sein, kleine Mette!«

»Doch, das wird wohl sein.«

Da zog der Prinz weiter auf Freiersfüßen, und er bekam auch keinen Korb, aber es wurde ausgemacht, daß die Braut ihn zuerst besuchen sollte, um zu sehen, wo sie hinheirate. Als nun die fremde Prinzessin kam, führte ihr Weg sie auch an Klein Mette vorbei, die die Schafe hütete, und sie grüßte und sagte: »Wie geht es dem Prinzen in England?«

»Es geht ihm gut, aber er hat einen Stein in seiner Schwelle, und der kann alles erzählen, was man getan hat.«

[104] Da wanderte die Braut weiter. Als sie zu dem Prinzen kam und auf den Stein trat, sagte er:


»Sie lügt, sie lügt,

Hat ein Kind schon gekriegt!«


Als der Prinz das hörte, wollte er nichts mehr mit ihr zu tun haben, denn er wollte nur eine reine Jungfrau haben, und die Prinzessin mußte wieder dahin gehen, wo sie hergekommen war.

Der Prinz begab sich wieder auf die Brautfahrt, und sein Weg führte ihn wieder an Klein Mette vorbei. Er grüßte sie und sagte:

»Guten Tag! Wie geht es dir heute, kleine Mette?«

»Es geht mir gut, ich trage Lumpen über Lumpen, bis ich den Königssohn von England heirate, dann trage ich Gold über Gold!«

»Das wird nie sein, Klein Mette!«

»Doch, das wird wohl sein!«

Dann zog er weiter, und die Werbung glückte ihm abermals, die fremde Prinzessin wollte ihn gern heiraten, und es wurde ausgemacht, daß sie ihn besuchen sollte, das stellte er immer als Bedingung.

Als sie nun zu dem Prinzen reiste, kam sie auch an Klein Mette vorbei. Da fragte sie nach dem Prinzen von England, und Mette gab zur Antwort: »Es geht ihm gut, aber er hat einen Stein in seiner Schwelle, der kann alles erzählen, was man getan hat!«

Als sie nun bei dem Prinzen eintrat und auf den Stein trat, sagte dieser:


»Sie lügt, sie lügt,

Hat zwei Kinder gekriegt!«


Das war schlimm, und er wollte natürlich nichts mehr von ihr wissen. Sie konnte wieder dahin zurückkehren, wo sie hergekommen war, denn der Prinz hatte sich fest vorgenommen, nur eine reine Jungfrau zu heiraten.

Da mußte er sich abermals auf die Brautfahrt begeben, und [105] sein Weg führte ihn wie gewöhnlich an Klein Mette vorbei. Er grüßte sie und sagte: »Wie geht es dir, Klein Mette?«

»Es geht mir gut, ich trage Lumpen über Lumpen, bis ich den Königssohn von England heirate, dann trage ich Gold über Gold!«

»Das wird nie sein, Klein Mette!«

»Doch, das wird wohl sein!«

Damit zog der Prinz seines Weges und kam zu der Prinzessin, um die er freien wollte. Die Werbung ging nach Wunsch, sie sagte ja, und es wurde ausgemacht, sie sollte ihn besuchen, und mit diesem Trost zog er wieder heim.

Als nun die neue Braut ihn besuchen wollte, führte ihr Weg an Klein Mette vorbei, und sie fragte nach dem Prinzen von England.

»Ja, es geht ihm gut, aber er hat einen Stein in seiner Schwelle, der kann alles erzählen, was man getan hat!«

Die Prinzessin reiste weiter, und als sie auf den Stein trat, sagte er:


»Sie lügt, sie lügt,

Hat drei Kinder gekriegt!«


Das wurde je länger, je ärger, und die Prinzessin wurde augenblicklich wieder heimgeschickt.

Da mußte er noch einmal auf die Freite ziehen, denn er wollte durchaus eine Frau haben. Auf dem Wege kam er an Klein Mette vorbei, die die Schafe hütete.

»Guten Tag, Klein Mette, wie geht es dir?«

»Es geht mir gut, ich trage Lumpen über Lumpen, bis ich den Königssohn von England heirate, dann trage ich Gold über Gold.«

»Das wird nie sein, Klein Mette!«

»Doch, das wird wohl sein!«

Er zog weiter und kam zu der vierten Prinzessin; da brachte er seine Werbung vor und erhielt den Bescheid, die Sache werde sich schon machen lassen. Es wurde ausgemacht, daß sie ihn einmal besuchen sollte, und dann reiste er wieder ab.

[106] Als die Prinzessin zu ihm reiste, fragte sie, wie es denn den anderen drei Prinzessinnen mit dem Prinzen ergangen sei, und sie hatte keine Lust, die vierte zu sein. Als sie an Klein Mette vorbeikam, fragte sie zu erst, wie es dem englischen Königssohn ginge.

»Ja, es geht ihm gut, aber er hat einen Stein in seiner Schwelle, der kann alles erzählen, was man getan hat!«

Da fragte sie Mette, ob sie nicht an ihrer Stelle zum Prinzen reisen wolle, sie könnten ja die Kleider wechseln, und sie wolle solange die Schafe hüten.

Mette war gern bereit, wurde nun als Prinzessin gekleidet und kam so zu dem Prinzen. Als sie den Stein betrat, sagte er:


»Schöne Jungfrau fein,

Wahrhaft keusch und rein!«


›Nun, da kommt ja endlich die rechte!‹ dachte er, ›habe ich doch wirklich ein reines Mädchen gefunden.‹ Und damit er nicht getäuscht werden und sie später auch sicher wiedererkennen könnte, flocht er ihr einen Ring ins Haar und ließ sie vorläufig wieder heimreisen; sie sollte erst zur Hochzeit wiederkommen.

Als Klein Mette wieder beim Prinzen entlassen war, tauschten sie wieder die Kleider, und die Prinzessin reiste heim zu den Ihrigen und war sehr froh, daß sie so gut davongekommen war, denn bei ihr stimmte da auch etwas nicht.

Als die Zeit kam, daß der Prinz zu seiner Braut reisen und Hochzeit halten sollte, kam er wie gewöhnlich an Klein Mette vorbei. Er grüßte sie und sagte:

»Wie geht es dir, Klein Mette?«

»Mir geht es gut, ich trage Lumpen über Lumpen, bis ich den Königssohn von England heirate, dann trage ich Gold über Gold!«

Wie der Königssohn so dastand und sie anschaute, fiel ihm auf, daß etwas in ihrem Haar glitzerte, und als er neugierig wurde und nachsah, was es sei, fand er seinen Goldring, den er ihr selbst eingeflochten hatte. Also [107] war sie an Stelle der anderen bei ihm gewesen, und da er nun wußte, daß sie eine reine Jungfrau sei, und weil er so oft schon betrogen worden war, beschloß er, sie auf der Stelle mit heimzunehmen und sie zu seiner Frau zu machen. Die Schafe mochte dann hüten, wer wollte.

Sie hielten Hochzeit, und so ist es zugegangen, daß klein Mette doch den Königssohn von England bekam und Gold über Gold tragen konnte.

Quelle:
Stroebe, Klara: Nordische Volksmärchen. 1: Dänemark - Schweden. Jena: Eugen Diederichs, 1915, S. 80-81,104-108.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese. Chronik eines Frauenlebens

Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.

226 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon