Helga


2. Helga.

[110] In den Þjóðsögur von Ólafur Daviðsson gibt es eine dritte Variante des Märchens vom »verlorenen Goldschuh« (nach der Erzählung seines Bruders Guðmundur), die bedeutend von dem bisherigen Märchen abweicht. Hier handelt es sich um drei Bauerntöchter. Die jüngste, Helga, ist das »Ellenbogenkind« und wird von den Eltern und den Schwestern immer misshandelt. Die beiden älteren Töchter töten Vater und Mutter, um ganz nach eigenem Geschmack ihr Leben führen zu können. Helga wird verschont und muss zur Verrichtung aller Haus- und Küchenarbeiten bei ihnen bleiben. An jedem Tage gehen nun die Schwestern ins benachbarte Königreich, um mit dem jungen Königssohn, den jede von ihnen gern heiraten möchte, Schach zu spielen. In ihrer Abwesenheit wandert Helga an das Grab, das sie ihren getöteten Eltern gegraben hat und weint bitterlich. Dann schläft sie ein. Im Traume erscheint ihr die Mutter und schenkt ihr zum Lohne für ihre Güte alles das, was in einer Höhle in der Nähe des Gehöftes verborgen ist. Sie findet hier drei verschiedenfarbige geflügelte Pferde, dazu passende Kleider, Schuhe und Stühle. Nachdem die Schwestern früh am andern Morgen wieder zum Königssohne gegangen sind, schmückt sich Helga mit dem schwarzen Kleide und den schwarzen Schuhen, nimmt den schwarzen Stuhl mit und setzt sich auf den schön gesattelten Rappen. Sie kommt nun durch die Lüfte geritten zum Königssohn, der sogleich bei ihrem Anblick die beiden Bauerntöchter verlässt und nur noch mit ihr spielen und plaudern will, bis sie ihm am Abend plötzlich davonfliegt. Am zweiten Tage schmückt sie sich mit dem roten Kleide und am dritten Tage mit dem[110] weissen Kleide und den Goldschuhen. Aber wie sie nun auf ihrem Pferde entfliegen will, verliert sie in der Eile einen Schuh. Am andern Tage lässt der Königssohn alle Jungfrauen des Landes zusammenkommen, keiner jedoch passt der Schuh. Helga erscheint auch auf ihrem Rappen, fliegt dreimal um die Versammlung, entflieht dann aber wieder trotz aller Bitten des Prinzen. So geht es am zweiten und gleichfalls am dritten Tage. Nun lässt der Königssohn durch das ganze Land alle Schlösser, Häuser und Hütten nach ihr absuchen. Schliesslich kommt er auch zu dem Bauernhofe. Die Schwestern wollen Helga durchaus nicht zeigen, doch endlich wird sie hervorgesucht. Sie kommt mit dem andern Goldschuh am Fusse herein und wird als die richtige Braut sogleich erkannt.

Die Geschichte von Mjaðveig Mánadóttir entspricht nur insofern den in den übrigen Sammlungen sich findenden Märchen »vom verlorenen Goldschuh«, als es sich in ihr auch darum handelt, dass die Stiefschwester der rechten Braut durch Abhacken der Ferse und Zehen es versucht, den Freier zu täuschen, und dass Vögel durch ihren Gesang auf den Betrug aufmerksam machen. Das Speisetuch, das in der ersten isländischen Fassung Mjaðveig von ihrer verstorbenen Mutter bekommt, erhält »Kari Træstak« (Asbj. 19, S. 81 ff.) allemal von einem Ochsen, in dessen Ohr es sich befindet. »Zweiäuglein« bei Grimm (130, II S. 158 ff.) findet allemal einen mit Speisen gedeckten Tisch, wenn es sich mit einem Spruche an seine Ziege wendet. Wie im Isländischen beobachtet dann in beiden Märchen eine von der Stiefmutter gesandte Persönlichkeit (Dienerin oder Stiefschwester), auf welche Weise das Mädchen sein Essen erhält. – – – – Die weiteren Schicksale, von denen in der ersten Fassung erzählt wird und die wohl aus dem Märchen »Die Riesin in dem Steinnachen« in diese Erzählung hinübergenommen wurden, finden sich in ähnlicher Weise auch bei Jac. II (»Fair, Brown and Trembling« S. 169 ff.) und Hahn (2 »Aschenputtel« I S. 70 ff.) mit dem Märchen »vom verlorenen Goldschuh« verbunden.

Die Erzählung vom »verlorenen Goldschuh«, wie Ólafur Daviðsson sie bietet, entspricht viel mehr der Gestalt, in der das Märchen bei den übrigen Völkern sich vorfindet. Im griechischen[111] Märchen wird ebenso wie im isländischen erzählt, dass die bösen Schwestern die Mutter getötet haben, und dass das »Aschenputtel« dann pietätvoll die Gebeine der Mutter begrub und über die Bluttat der Schwestern trauerte. Zum Lohne erhält sie dafür die schönen Kleider. – – –

In den übrigen Hauptzügen stimmen dann die weiteren Märchen vom »verlorenen Goldschuh« mit der letzten isländischen Fassung überein. Das »Aschenbrödel« kommt dreimal herrlich gekleidet mit einem Prinzen zusammen (meist in der Kirche oder beim Feste, nur im Isländischen beim Schachspiel und nachher noch dreimal bei der Zusammenberufung aller Jungfrauen). Nach dem letzten Erscheinen verliert das Mädchen dann ihren Goldschuh, den der Königssohn aufhebt und den nun alle Jungfrauen anprobieren müssen. Der Betrug der Stiefschwester wird durch den Vogelgesang aufgedeckt, und die rechte Braut, der der Goldschuh wie angegossen sitzt, wird gefunden. – – – Dieses hier kurz skizzierte Märchen findet sich noch auf den Fær-öern (Fær. 19 »Krákudóttir og kalsdóttir« S. 309 ff.), in Norwegen (Asbj. 19 »Kari Trestak« S. 81 ff.) und in Deutschland (Grimm 21 »Aschenputtel« I S. 88 ff.). Köhler (Kl. Schr. S. 274 ff.) weist dieses Märchen dann auch noch in zahlreichen anderen Märchensammlungen nach. Wie in »Helga«, dem zweiten isländischen Märchen, so wird auch bei verschiedenen anderen Völkern das Motiv ausgelassen, dass die Stiefschwester den Fuss sich verstümmelt, um den Schuh anziehen zu können. In dieser verkürzten Form wird das Märchen bei Bas. (1. Tag 6. Märchen S. 78 ff.), Hahn (2 »Aschenputtel« I S. 70 ff.) und Jac. II (»Fair, Brown and Trembling« S. 169 ff.) erzählt.

Zu dem Motiv vom »verlorenen Schuh« ist Sartori »Der Schuh im Volksglauben« (Z.d.V.f.V. IV S. 160) zu vergleichen.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 110-112.
Lizenz:
Kategorien: