LVI. Gríshildur, die Gute.

[230] Árn. II S. 414–17. Nach einer Erzählung aus dem Westen von Dalir.


Ein unverheirateter König wird oft von den Seinigen gebeten, sieh eine Frau zu wählen. Eines Tages lässt er zwanzig Pferde satteln, für zehn Herren und ebensoviele Damen bestimmt. Jedoch nur neun Damen seines Gefolges werden zur Teilnahme aufgefordert, das am schönsten gesattelte Pferd wird ledig mitgeführt. So reitet der König mit dieser Schar lange Zeit durch den Wald, bis er endlich zu einem bescheidenen Häuschen kommt. Wie er an die Türe klopft, tritt ein wunderschönes Mädchen heraus. Auf Befragen erzählt dieses, dass es Gríshildur heisse und die Tochter der armen Häuslersleute sei, die drinnen in der Hütte wohnten. Bei den Eltern wirbt der König nun um Gríshildur und bekommt sie schliesslich auch zugesagt. Das erstaunte Mädchen wird auf das prächtig geschmückte Pferd gesetzt und zum Schlosse geführt, wo dann die Hochzeit gefeiert wird. – – Wie die Königin ein schönes Mädchen zur Welt bringt, erlaubt ihr der Gatte, es selber aufzuziehen. Doch nach einiger Zeit schickt er einen Diener, der ihr das Kind im Auftrage des Königs wegnehmen muss. Gríshildur weint hierüber bitterlich, beklagt sich jedoch mit keinem Worte bei ihrem Gatten. Nach der Geburt eines Knaben handelt der König auf die gleiche Weise. Kurze Zeit nachher lässt er die Königin zu sich rufen und fragt nach den Kindern. In Tränen aufgelöst sagt ihm Gríshildur, dass diese ihr ja in seinem Auftrage fortgenommen worden seien. Nun stellt sich der König entrüstet, behauptet, sie habe die Kinder ermordet und jagt sie mit Schimpf und Schande zu ihren Eltern zurück. Hier verlebt die Arme, besonders vom Vater mit Vorwürfen verfolgt, sechzehn schwere Jahre. Nach dieser Zeit macht der König bekannt, dass er eine zweite Heirat eingehen wolle. Er lässt Gríshildur aufs Schloss kommen, damit sie für das Hochzeitsmahl in der Küche behilflich sei. Am Abend befiehlt ihr der König, ein kurzes Kerzenstück zwischen die Finger zu nehmen und ihm und seiner Gattin zu Bett zu leuchten. Bald ist die Kerze so kurz, dass die Fingerenden verbrannt werden. Nun fragt der König, ob sie sich denn nicht brenne.[231] Geduldig antwortet Gríshildur »schlimm brennen die Finger, aber noch schlimmer brennt das Herze«, und Tränen entstürzen ihren Augen. Da sagt der König gerührt: »Von nun an sollst du die gute Gríshildur heissen. Meine Braut hier ist unsere gemeinsame Tochter, die dir an Güte und Schönheit gleich ist, und wenn du mir vergeben willst, so sollst du und keine andere für immer meine Gattin sein.«

In dieser kleinen Erzählung ist unschwer die Geschichte der »schönen Griseldis« wiederzuerkennen, nur die letzte Prüfung der Schwergeprüften scheint aus einem andern Märchen herübergenommen zu sein. Schon Saxo Grammaticus (VI. Buch S. 330 ff.) erzählt, dass Syritha bei der scheinbaren Hochzeit ihres heimlich geliebten Othar die Hochzeitskerze am Bette des Brautpaares halten musste. So tief ist ihr Seelenschmerz, dass sie nicht merkt, wie die Flamme beginnt ihre Hand zu verbrennen. Othar bittet sie, ihre Hand zu hüten. Da schaut sie zum ersten Male in ihrem Leben ihn an, ihr Blick verrät ihre Liebe, und sie wird statt der angeblichen Braut die Gattin Othars. – –

Über die Geschichte der »Griseldis« und die zahlreichen Bearbeitungen dieser Novelle ist Dunlop S. 253 zu vergleichen, ferner auch Köhler »Die Griseldis-Novelle als Volksmärchen« (Kl. Schr. II S. 534 ff).

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 230-232.
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