[53] 1. Die kluge Bauerntochter.

Es war einmal ein junger König, der ging auf die Jagd. Als es Abend wurde, sah er auf einmal, daß er von seinem Gefolge getrennt war, und nur sein Läufer noch bei ihm war. Zugleich wurde es Nacht, und in dem dichten Wald konnten sie den Heimweg nicht mehr finden. So irrten sie mehrere Stunden lang umher, und endlich sahen sie in der Ferne ein Licht. Als sie näher kamen, sahen sie daß es ein Häuschen war; da schickte der König seinen Läufer hin, und hieß ihn die Leute wecken. Also klopfte der Läufer an der Thür, und bald erschien der Bauer der darin wohnte, und frug: »Wer klopft da zu so später Stunde?« – Da antwortete der Läufer: »Seine Majestät der König steht hier draußen und kann den Weg nach seinem Schlosse nicht finden; wollet ihr ihm ein Obdach und ein Abendessen geben?« – Da öffnete der Bauer schnell die Thür, weckte seine Frau und seine Tochter und hieß sie ein Huhn schlachten und zubereiten. Als nun das Abendessen fertig war, baten sie den König mit dem Wenigen fürlieb zu nehmen, was sie ihm bieten könnten. Der König nahm das Huhn und zerlegte es; dem Vater gab er den Kopf, der Mutter die Brust, der Tochter die Flügel, für sich behielt er die Schenkel und dem Läufer gab er die Füße. Darauf legten sie sich Alle zu Bett. Die Mutter aber sprach zu ihrer Tochter: »Warum hat der König das Huhn wohl so eigenthümlich vertheilt?« Sie antwortete: »Es ist ja ganz klar; dem Vater gab er den Kopf, weil er das Haupt der Familie ist; euch gab er die Brust, weil ihr ein altes Mütterchen seid;1[1] mir gab er die Flügel, weil ich doch einmal von euch fortfliegen werde; für sich behielt er die Schenkel, weil er ein Reiter ist, und seinem Läufer gab er die Füße, damit er desto schneller laufen kann.«

Den nächsten Morgen setzten sie dem König ein Frühstück vor und wiesen ihn auf den richtigen Weg. Als der König in seinem Schlosse angekommen war, nahm er einen schönen gebratenen Hahn, einen großen Kuchen, ein Fäßchen Wein, und 12 tarì, rief seinen Läufer und befahl ihm Alles zu den Bauern zu tragen, mit der Versicherung seiner Gnade. Der Weg war weit und der Läufer war müde und fing bald an hungrig zu werden. Zuletzt konnte er seinem Verlangen nicht widerstehen, schnitt den halben Hahn ab, und verzehrte ihn. Nach einer Weile wurde er auch durstig, und trank auch die Hälfte vom Wein. Als er nun weiter ging und den Kuchen anschaute, dachte er: »Der ist gewiß gut!« und aß auch noch die Hälfte von dem Kuchen. Nun dachte er: »Warum sollte ich auf halbem Weg stehen bleiben? Ich muß doch Alles gleich machen,« und nahm auch noch 6 tarì von den zwölfen. So kam er denn endlich zum Bauer, und lieferte ihm den halben Hahn, den halben Kuchen, das halbe Fäßchen Wein und den halben Thaler aus. Der Bauer und seine Familie waren hoch erfreut über die Ehre, die ihnen der König anthat, und trugen dem Läufer auf, dem König ihren Dank auszusprechen. Die Tochter aber, da sie sah, daß Alles nur zur Hälfte vorhanden war, sagte dem Läufer, sie wolle ihm noch eine besondere Botschaft an den König mitgeben, er müsse sie aber Wort für Wort wiedersagen. Der Läufer versprach es, und sie begann: »Zuerst mußt du dem König sagen: Der in der Nacht wohl singet, mein Gott warum nur halb?2 Kannst du das behalten?« »O ja!« sprach der Läufer. – »Dann mußt du ihm auch noch sagen: Der Mond im zweiten Viertel, mein Gott, warum denn halb? Kannst du das auch behalten?« »O gewiß!« antwortete der Läufer. »Dann mußt[2] du ihm auch sagen: ›'s war oben zu und unten zu, mein Gott, warum denn halb?‹ Wirst du das auch nicht vergessen?« »Gewiß nicht!« sagte der Läufer. Endlich mußt du ihm sagen: »Das Jahr hat doch zwölf Monate, mein Gott, warum denn sechs?« Der Läufer versprach Alles richtig zu sagen, und machte sich auf den Weg, indem er fortwährend die Worte wiederholte, um sie ja nicht zu vergessen. Als er zum König kam, frug ihn dieser: »Nun, hast du Alles richtig abgeliefert?« – »Ja wohl, Ew. Majestät« antwortete der Läufer, ich soll euch auch eine Botschaft bringen von der Tochter des Bauern. Erst hat sie gesagt: »Der in der Nacht wohl singet, mein Gott warum denn halb?« – »Was?« rief der König, »solltest du den halben Hahn gegessen haben?« »Ach Majestät!« sprach der Läufer, »hört doch erst meine Botschaft an. Dann hat sie gesagt: Der Mond im zweiten Viertel, mein Gott, warum denn halb?« – »Was?« schrie der König, »so hast du auch den halben Kuchen gegessen?« – »Ach Majestät!« sprach der Läufer, »laßt mich erst ausreden.« Zu dritt hat sie gesagt: »'s war oben zu und unten zu, mein Gott, warum denn halb?« – »Was?« schrie der König »hast du auch das halbe Faß Wein ausgetrunken?« »Ach Majestät!« rief der Läufer, »laßt mich erst meine Botschaft zu Ende sagen.« Endlich hat sie gesagt: »Das Jahr hat doch zwölf Monate, mein Gott, warum denn sechs?« »Also hast du auch noch den halben Thaler gestohlen!« rief der König. Da fiel der Läufer auf die Knie, und bat den König um Verzeihung. Und der König war so erfreut über die Klugheit des Mädchens, daß er dem Läufer verzieh. Dem Mädchen aber schickte er einen schönen Wagen mit schönen Kleidern, und nahm sie zu seiner Frau.


Diese blieben glücklich und zufrieden,

Wir nur zogen lediglich die Nieten.3

1

Pirchi siti vecchiaredda.

2

Chiddu chi a notti canta

O Diu, menzu pirchì?

La luna a quinta decima,

O Diu, menza pirchì?

Stuppatu susu e jusu

O Diu, menzu pirchì?

Li dudici misi di l'annu

O Diu, sei pirchì?

3

Iddi ristaru felici e cuntenti

E nui ristammu senza nenti.

Quelle:
Gonzenbach, Laura: Sicilianische Märchen. Leipzig: Engelmann 1870, S. I1-III3,LIII53.
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