45. Die Empfindlichste.
(La più delicata.)

[128] Ein Königssohn sollte nach dem Willen seiner Aeltern heiraten. Er aber sprach: »Ich will nur eine solche Frau nehmen, von der ich[128] mit gutem Gewissen sagen kann, sie sei die empfindlichste auf der Welt.« Da antworteten seine Aeltern: »Geh nur und suche sie dir!«

Er ging und kam zu Einer, die hatte sich den Kopf verbunden und sah sehr leidend aus. »Was fehlt dir?« fragte er. »Ach«, sagte sie »heute früh hat mir die Magd beim Kämmen ein Haar ausgerissen, davon leid' ich so grosse Schmerzen.« Der Prinz aber dachte sich: »Das ist noch nicht die rechte, ich will weiter suchen.«

Er ging und fand eine andere, die hatte sich den ganzen Leib mit den feinsten Linnen umwickelt und sah sehr traurig aus. »Was fehlt dir?« fragte er. »Ach«, sagte sie, »heute Nacht lag ich in meinem Bette und das Linnen, auf dem ich lag, hatte eine kleine Falte, davon bin ich krank geworden.« Der Prinz aber dachte: »Das ist auch noch nicht die empfindlichste, es muss noch besser kommen.«

Er ging wieder und kam zu einer dritten, die sass auf einem Lehnstuhle und hatte sich den Fuss verbunden. Dazu weinte sie lichte Thränen und verzog ihr schönes Gesichtchen, dass es darum gar sehr Schade war. »Was fehlt dir denn?« fragte der Prinz. »Ach«, stöhnte sie, »da ging ich heute früh im Garten spazieren und es wehte ein Lüftchen, da ist mir von einer Jasminblüte ein Blättchen auf den Fuss gefallen.« Da dachte der Prinz ein wenig nach und sagte: »Du bist die rechte, denn eine empfindlichere kann es nicht mehr geben!« Und er heiratete sie.

Ob er daran wol gethan? Leider weiss es die Erzählerin nicht, denn es ist ihr der Faden ausgegangen. –

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 128-129.
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