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[197] Es war einmal ein Witwer, der hatte einen einzigen Sohn; er nahm eine Witwe zur Frau, die auch einen Sohn hatte. Als sie verheiratet waren, überlegten sie, welches Vieh jeder von den Söhnen hüten sollte. Die Frau sagte: »Meiner soll die Kühe haben, deiner die Ochsen.« So geschah es. Die Mutter gab nun ihrem eigenen Sohn eine Tasche voll Brot und Käse, dem anderen aber nur die Rinde, die sie ihrem Sohn vom Brote abgeschnitten hatte. Der Stiefsohn hütete nun die Ochsen und weinte dabei immer. Auf einmal fragte ihn ein Ochse: »Was ist dir, mein lieber kleiner Hirt, daß du immer so sehr weinst?« Der Hirtenjunge antwortete: »Wie sollte ich nicht weinen, ich bin ja immer hungrig, zu Hause bekomme ich nichts zu essen als die Rinde vom Brot meines Bruders, die esse ich.« Darauf sagte der Ochse: »Wenn du hungrig bist, schraube mein rechtes Horn ab, darin wirst du zu essen und zu trinken finden.« Das tat er, und nach einigen Tagen war er schon wohlgenährter als der Stiefbruder. Die Stiefmutter ging nun nachsehen und sah, wie es zuging. Darauf stellte sie sich krank und sagte, sie [197] würde sterben, wenn sie nicht die Leber des Ochsen zu essen bekäme. Jetzt weinte der Hirt wieder, und der Ochse fragte ihn wieder: »Was ist dir jetzt? Warum bist du wieder betrübt?« Er antwortete: »Wie sollte ich nicht betrübt sein, da ja der Fleischer kommen wird, dich zu holen und zu schlachten.« Darauf sagte der Ochse: »Wenn er kommt, mich zu holen, stelle dich auf das Hürdentor, und sowie ich herauskomme, springe mir auf den Rücken.« Das tat er, sprang auf den Ochsen, und der trug ihn an dem einen Abend so weit, daß er hundert Jahre bis nach Hause gehabt hätte. Der Ochse brachte ihn auf einen Anger und sagte zu ihm: »Ich werde dort mit einem fetten Ochsen kämpfen, der wird mich nicht töten; aber dann werde ich mit einem mageren kämpfen, und der wird mich töten. Dann nimm du meine beiden Hörner, aber in das linke darfst du nicht hineinsehen, ehe du zu Hause bist.« Der Bursche konnte es aber nicht aushalten, nicht in das linke Horn zu sehen, und als er an eine Brücke kam, setzte er sich hin und öffnete das linke Horn. Aus dem stürzte nun eine solche Menge Vieh heraus, daß es schrecklich zu sehen war. Da fing er wieder an zu weinen. Unter der Brücke aber waren Vilen, und eine kam jetzt hervor und fragte ihn, was er habe und warum er so weine. Er erzählte es, und die Vila sagte ihm, sie würde das Vieh wieder hineinschaffen, wenn er ihr erlaube, daß sie am ersten Morgen nach der Hochzeit seine Frau kämme. Er dachte, Gott weiß, ob ich mich je verheirate, und versprach es ihr. Darauf brachte die Vila das Vieh wieder in das Horn zurück. Er ging nun weiter und kam nach Hause. Dort fand er niemand, nur den Vater, das Haus war ganz verfallen. Er bat den Alten um Quartier, und der antwortete: »Ich habe nichts als diesen Winkel, wenn du damit zufrieden bist.« Der Bursche antwortete, er sei damit zufrieden, dann gab er sich zu erkennen und sagte dem Vater, er solle zum König gehen und ihn fragen, ob der ihm seine Tochter zur Frau geben wolle. Der Alte getraute sich nicht vor den König zu treten, sondern ging nur bis zur Vorhalle des [198] Schlosses und blieb dort stehen. Dann kehrte er zurück und sagte: »Ach, mein Sohn, du bekommst sie nicht.« Der Sohn aber wußte alles, er brauchte nur in das Horn zu sehen, und sagte: »Ihr seid nicht bei dem König gewesen, geht hin.« Der Alte ging wieder, diesmal in die Küche, wo er zu essen bekam. Der Sohn aber merkte es wieder, und der Alte mußte zum dritten Male gehen. Da sagte der König zu ihm: »Wenn dein Sohn ein Schloß haben wird, wie ich es habe, dann soll er sie bekommen.« Der Bursche sah nun in sein Horn, und es stand ein Schloß da, noch schöner als des Königs. Der König wollte ihm aber doch die Tochter nicht geben, sondern sagte, er solle sie erst dann bekommen, wenn er ebensoviel Vieh haben werde wie der König. Da öffnete er nun das linke Horn und hatte mehr Vieh als der König. Am anderen Morgen spannte er an, um die Königstochter zur Trauung abzuholen. Nach der Trauung wurde ein Gastmahl gehalten. Als die Gäste fort waren, gingen sie schlafen, und am nächsten Morgen kam die Vila, die Frau zu kämmen, wie er ihr versprochen hatte. Seiner Frau sagte er, sie solle nur ruhig sein. In der Stube aber lag in einer Ecke Gespinst, darin drei Brotrinden, und die Rinden fingen an zu sprechen: »Wenn du von Gott bist, geh zu Gott, wenn aber vom Teufel, geh zum Teufel.« Die Vila kämmte die Frau, dann verschwand sie.