[509] 428. Gränzpfahl verrückt.

Mündlich; mitgetheilt von J.F. van Kerckhoven.


Nahe bei dem Dorfe Vierzel wohnte zu Zeiten ein Bauer, der von solcher Gier nach Erweiterung seines Landes erfüllt war, daß er die Gränzpfähle, welche seine Aecker von denen seines Nachbars schieden, verrückte und demselben auf diese Weise ein großes Stück Land stahl. Der Nachbar war ein herzensguter Mann, der keinem Menschen in der Welt etwas Böses zutraute, und darum auch nie ahnte, wie arg er von dem Bauer betrogen wurde. So genoß der Bauer die Früchte seines Diebstahles in Ruhe sein ganzes Leben hindurch. Aber nun kam er zu sterben, und das geschah so schnell, daß er nicht einmal daran denken konnte, seine Sünden zu beichten. Als er aber todt war, da sahen ihn die Bauern der Umgegend alle Nacht zwischen zwölf und ein Uhr durch das Feld laufen. Er trug einen schweren Pfahl auf dem Rücken und schrie unaufhörlich: »Wohin soll ich ihn setzen? Wo soll ich ihn lassen?«

Schon war er viele Jahre lang also umhergerannt, als es sich einmal zutrug, daß ein trunkener Bauer an dem Felde vorbeikam und nicht weiter fortkommen konnte, sondern sich hinlegte und in Schlaf fiel. Mit dem Schlage von zwölf erschien der Geist mit dem Gränzpfahle und schrie, wie gewohnt: »Wohin soll ich ihn setzen? Wo[509] soll ich ihn lassen?« Der Trunkenbold erwachte von dem Geschrei und erhob den Kopf und sah den Geist an und sprach: »Ei, Lumpenhund, setz' ihn wieder hin, wo du ihn genommen hast, du Dummbart du!« – »Gott sei gedankt! Nun bin ich erlöst!« rief da der Geist freudig, und ging und setzte den Pfahl wieder auf die alte Stelle. Seitdem kam er auch nicht mehr wieder. Der Trunkenbold war aber vor Schrecken über die Antwort des Geistes nüchtern geworden und hat sich seitdem nicht wieder betrunken.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 509-510.
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