XI. Die Stimme des Todes.

[132] Es war einmal, wie's einmal war, wäre es nicht gewesen, würde es nicht erzählt.

Es war einmal ein Mann, der bat jeden Tag zum Herrgott, daß er ihm Reichthümer geben solle. Seine vielen und häufigen Gebete fanden den lieben Herrgott eines Tages in guter Laune, und er erhörte sie. Nun er reich geworden war, wünschte er nicht mehr zu sterben, und so beschloß er, von Land zu Land zu ziehen und sich da anzusiedeln, wo er erführe, daß die Leute nicht stürben. Er machte sich wegbereit, theilte auch seiner Frau seine Absicht mit und brach auf.

In jedem Lande, in das er kam, fragte er, ob die Leute dort etwa stürben, und ging sogleich weiter, wenn man ihm sagte, daß dort welche stürben. Schließlich gelangte er in ein Land, in dem man ihm sagte, daß man nicht wisse, was sterben hieße. Der Reisende fragte voller Freude:

»Aber sind bei Euch denn nicht Unmengen von Menschen, wenn die Leute nicht sterben?«

»Es sind keine Unmengen, denn sieh mal an«, entgegnete man ihm, »hin und wieder kommt Jemand und ruft Einen nach dem Anderen, und wer ihm folgt, kehrt nicht mehr zurück.«[133]

»Und sehen die Menschen den, der sie ruft?«, fragte er weiter.

»Wie sollten sie ihn nicht sehen?« entgegnete man ihm.

Darauf konnte er sich nicht genug über die Dummheit der Leute wundern, die dem, der sie ruft, folgen, wenn sie doch wüßten, daß sie dort blieben, wohin er sie brächte. Und er kehrte nach Hause zurück, nahm sein ganzes Vermögen, Frau und Kinder und ging, um sich da niederzulassen, wo die Menschen nicht sterben, sondern wo ein gewisser Jemand sie ruft, und Jeder der diesem gewissen Jemand folgt, nicht zurückkommt; dabei hatte er den festen Entschluß, daß er und die Seinen nie irgend Jemandem, wer es auch sei, der sie riefe, folgen würden.

So also, nachdem er sich niedergelassen und alle seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, rieth er seiner Frau und den Seinen allen, auf keinen Fall irgend Jemandem, der sie rufen möchte, zu folgen, wenn sie, wie er sagte, nicht sterben wollten.

Sie gaben sich also dem Wohlleben hin und brachten so einige Jahre zu. Eines Tages, als sie Alle vergnüglich in ihrem Hause saßen, begann seine Frau plötzlich zu rufen:

»Ich komme schon, ich komme schon!«

Und sie suchte nach ihrer Pelzjacke im Zimmer herum. Unser Mann sprang sogleich auf, nahm sie bei der Hand, hielt sie fest und begann ihr Vorwürfe zu machen:

»So hörst Du auf meine Rathschläge? Bleib hier, wenn Du nicht sterben willst!«

»Hörst Du denn nicht, wie der mich ruft? Ich will nur zusehen, was er will, und kehre gleich zurück.«

Und sie schlug um sich, um sich aus ihres Mannes Händen frei zu machen und dorthin zu gehen.[134]

Er hielt sie mit Gewalt fest, und es gelang ihm, alle Thüren des Zimmers zu verriegeln. Als sie das sah, sagte sie:

»Laß nur, Mann, jetzt will ich gar nicht mehr gehen.«

Der Mann glaubte, sie wäre zu sich gekommen und hätte den Wahnsinn aufgegeben; aber es dauerte nicht lange, da stürzte die Frau auf die nächste Thür zu, öffnete sie eilig, lief schnell hinaus, ihr Mann aber immer hinter ihr her, hielt sie an der Jacke fest und rieth ihr unaufhörlich, nicht zu gehen, denn sonst würde sie nicht zurückkehren. Sie ließ die Hände herabfallen, nach rückwärts zu, beugte sich etwas herüber, warf sich zurück, und die Pelzjacke glitt ihr von den Schultern und blieb in den Händen des Mannes, der rein erstarrte, als er ihr nachsah, wie sie davon eilte und aus allen Kräften schrie:

»Ich komme schon, ich komme schon.«

Als er sie nicht mehr sah, kam unser Mann zu sich, trat in's Haus zurück und sagte:

»Wenn Du unsinnig bist und Lust hast zu sterben, so gehe in Gottes Namen, ich kann Dir nicht mehr helfen; ich habe Dir genug gesagt, daß Du Niemandem folgen solltest, wer Dich auch immer riefe!«

Es vergingen die Tage, viele Tage, Wochen, Monate, Jahre, und der Friede in seinem Hause wurde nicht wieder gestört. Einmal aber, als er sich seiner Gewohnheit gemäß beim Barbier befand, dessen Laden voller Leute war, und sich rasiren ließ, gerade als er mit dem Seifenschaum am Kinn war, begann er zu rufen:

»Ich komme nicht, hörst Du, ich komme nicht!«

Der Barbier und die anderen Leute waren ganz starr. Er sagte wiederum, nach der Thür schauend: »Und merk[135] Dir's ein für alle Mal, daß ich nicht komme, und geh fort von da!«

Später sagte er wieder:

»Geh fort, hörst Du, wenn Du mit heiler Haut davon kommen willst, denn ich sage Dir tausendmal, daß ich nicht komme.«

Und als ob Jemand an der Thür stünde und ihn immerfort riefe, ärgerte er sich und boste sich, daß der ihn nicht in Frieden ließe. Schließlich stürzte er heraus und riß das Rasirmesser aus der Hand des Barbiers:

»Gieb's mir«, sagte er, »damit ich ihm zeige, was das heißt, die Leute immerfort zu ärgern!«

Und er rannte in großer Eile dem nach, der, wie er sagte, ihn riefe, den aber Niemand außer ihm erblickte. Der arme Barbier, um nicht sein Rassirmesser zu verlieren, lief ihm nach. Der Mann lief, der Barbier ihm nach; dieser rannte, jener ihm immer nach, bis sie aus der Stadt kamen und dort, ein wenig weiter draußen, stürzte der Mann in einen Abgrund, aus dem er nicht wieder zum Vorschein kam, so daß auch er, gegen seinen Willen, wie Alle, dem folgte, der ihn rief.

Der Barbier, der pfeifend wie ein zu kurz Gekommener heimkehrte, erzählte Allen, was ihm begegnet sei, und so verbreitete sich die Ansicht im Lande, daß die Menschen, die fortgingen und nicht wiederkehrten, in jene Höhle gerathen seien, denn bis dahin hatte Niemand gewußt, was aus den Leuten wurde, die dem folgten, der sie rief.

Als eine Menschenmenge sich nach der Unglücksstätte aufmachte, um den unersättlichen Abgrund zu sehen, der alle Leute verschlang und doch noch nicht Genüge daran hatte,[136] fanden sie nichts; es schien, als sei dort, seitdem die Welt stand, nur eine weite Ebene gewesen, und von da an begannen die Menschen in der Gegend auch zu sterben, wie in der ganzen Welt.

Quelle:
Kremnitz, Mite: Rumänische Märchen. Übersetzt von -, Leipzig: Wilhelm Friedrich, 1882, S. 132-137.
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