[175] Die Moosthiere oder Bryozoen (Bryozoa) haben das Schicksal mancher in sich geschlossenen Thiergruppen getheilt, daß die Systematik lange nicht über den ihnen anzuweisenden Platz einig werden konnte. Ihre mikroskopische Kleinheit, verbunden mit dem Umstande, daß ein Kranz oder zwei Büschel von Fühlern ihre Mundöffnung umgibt, und besonders, daß sie immer in Stöcken und Kolonien vorkommen, deren Bildung eine unverkennbare Gleichartigkeit mit den Stöcken der wahren Polypen zeigt, ließ die ihnen von den meisten älteren Naturforschern bei den Polypen angewiesene Stellung als gerechtfertigt erscheinen. Dann wieder glaubte der berühmte Pariser Zoolog, Milne Edwards, aus der Form des Darmkanales und einigen anderen Zeichen eine Annäherung an die Mantelthiere schließen zu müssen. Er vereinigte beide Klassen als »Molluskoiden« in weichthierähnliche Thiere. Indessen wird mit Recht in einem der neuesten systematischen Werke darauf hingewiesen (Carus), daß »es die völlige Abwesenheit eines äußerlich abgesetzten animalen Körpertheiles ist, welche eine direkte Verbindung des Molluskoidenbaues mit dem Organisationsplan der Mollusken erschwert, ja ganz unmöglich macht«. Wir gehen noch weiter, indem wir nicht einmal die Beziehungen der Moosthiere zu den Mantelthieren zugeben. Leider sind damit die systematischen Schwierigkeiten nicht gehoben, und es liegen kaum positiv zwingende Gründe vor, die Moosthiere als einen Zweig des Würmerstammes zu betrachten. Karl Vogt hat nämlich einmal witzig bemerkt, daß dem Systematiker, der nach einer die heterogene Gesellschaft der wurmartigen Thiere umfassenden Diagnose suche, keine andere übrig bleibe, als: »des Wurmes Länge ist verschieden«.
Wo uns die Anatomie der erwachsenen Thiere in der Bestimmung der Verwandtschaft im Stiche läßt, gibt in der Regel die Entwickelung Fingerzeige. Schneider will aus der Vergleichung der Cyphonautes genannten Larve, einer meerbewohnenden Bryozoe, der Membranipora pilosa, mit Sternwurmlarven auf die Verwandtschaft unserer Thiere mit diesen Würmern (siehe Seite 114) schließen, und findet auch im Baue der Bryozoen entscheidende Uebereinstimmung mit den Sipunkuloiden. Ohne in diese speciellere Vergleichung einzugehen, schien uns wenigstens die Hindeutung darauf für die Orientirung geboten.
Wir machen uns mit dem Baue eines Moosthieres an der umstehenden Abbildung bekannt, welche uns den äußeren Umriß und das Innere eines Thieres aus dem Stocke der in den süßen Gewässern Belgiens lebenden Paludicella Ehrenbergii sehen läßt, und zwar in sehr vergrößertem Maßstabe. Am Grunde ist das Thier von dem darunter befindlichen Individuum losgelöst worden, und oben ist das darauf folgende höher stehende Individuum abgebrochen. Der Körper stellt eine [175] Zelle dar, hier ziemlich verlängert. Die Wandungen sind steif und nur am Vordertheile so biegsam, daß dasselbe durch mehrere Muskeln (m), darunter einen besonders starken und sich bis fast in den Hintergrund der Zelle frei durch den Körper erstreckenden, eingestülpt und eingezogen werden kann. Am Vorderende selbst befindet sich die Mundöffnung, umgeben von einem Kranze wimpernder Fühlfäden (a). Der mit einem muskulösen Schlundkopfe (b) beginnende Darmkanal hängt wie eine Schlinge, den Magen (g) zu unterst, in die Leibeshöhle hinein und endigt etwas unterhalb des Mundes (bei c). Sonst ganz frei, wird er nur noch durch ein paar kürzere Stränge an die Leibeswand locker befestigt. In allen erwachsenen Zellen entwickeln sich an der Wandung zwei Zellenhaufen, aus deren oberem (o) Eier hervorkommen, während im unteren (t) Samenkörperchen sich erzeugen. Die Moosthierchen sind mithin Hermaphroditen; die Befruchtung der Eier geschieht durch die in ihrer nächsten Nähe sich bildenden und mit den Eiern frei in der Leibesflüssigkeit schwimmenden Sa menkörper.
Dies sind die einförmigen wesentlichen Grundzüge des Baues einer Thiergruppe, von der man zwar gegen eintausendundsiebenhundert fossile und noch lebende Arten kennt, die aber trotz der Anhäufung der Individuen zu Stöcken im ganzen sehr wenig in die Augen fällt. Einige Sippen überziehen im Süßwasser Wurzeln und die Stengel der Seerosen bis zu Armesdicke, sind aber dabei so unansehnlich und mißfarbig, und die Zierlichkeit der Einzelindividuen entzieht sich dabei so dem Auge, daß auch durch diese Massen die Aufmerksamkeit nicht erregt wird. Von äußerster Mannigfaltigkeit und bewundernswürdiger Zierlichkeit sind die Stöcke der seebewohnenden Bryozoen, auch von außerordentlicher Häufigkeit. Sie erheben sich von den verschiedensten Unterlagen als zierliche Bäumchen oder gabelig sich verzweigende Gebilde, oder kriechen in dieser Verzweigung auf der Unterlage hin. Andere wieder verflechten sich zu feinen Netzen und Krausen oder gleichen zusammenhängenden Rasen und Moosen, bilden Blätter, an denen entweder nur auf einer oder auf beiden Seiten die Kiemenbüsche zum Vorscheine kommen.
Zur Beute der Schleppnetzexkursionen an den Küsten des Atlantischen Oceans und Mittelmeeres zählt sehr oft die sogenannte Netzkoralle, keine Koralle, sondern ein echtes Moosthier, dessen Kolonien einen lieblichen Anblick gewähren. Im frischen Zustande erscheinen die einem feinen becherförmigen oder mannigfach gefalteten und gekrausten Netzwerke gleichenden Stöcke von einer röthlichen organischen Masse überzogen, aus welcher sich die zarten Vorderenden der nur mit starker Lupe deutlich erkennbaren Einzelthiere erheben. Die Stöcke aber, aus denen die Weichtheile [176] durch Bleichen und Putzen entfernt sind, haben eine blendend weiße Farbe. Es überwiegt an ihnen die kalkige, die einzelnen Individuen verbindende Zwischenmasse, deren Verhältnis zu den den Einzelthieren angehörigen Theilen ein ganz ähnliches ist, wie bei den Polypen. Wir verweisen darüber auf die spätere Darstellung der letzteren. Die kleinen Oeffnungen, welche wie Pünktchen auf den durchbrochenen Blättern der Stöcke zu sehen sind, gehören den Einzelthieren an. Ihre Wandungen sind die zu Skelett gewordenen Hinterenden, die Kapseln, in welche das zugehörige Vorderende sich zurückzog.
Als Beispiel der ungemein zahlreichen überrindenden, oft auch zugleich frei blätterig ausgebreiteten Moosthierformen des Meeres geben wir eine Lepralie des Mittelmeeres. Ich habe die Artbestimmung vermieden, weil ich mich der Vermuthung nicht entschlagen kann, daß die Anzahl der vielen von den Fachkennern beschriebenen Arten bedeutend wird zusammengezogen werden müssen. Der Fuß des Stockes ruht auf einem vielästigen Gebilde, einer den Algen verwandten, sehr gemeinen Kalkpflanze aus der Abtheilung der Melobesieen, und diese selbst ist einem Steine aufgewachsen. Die Einzelthiere sind im Stocke in Reihen geordnet, und eine Eigenthümlichkeit, welche die Lepralien von den Reteporen und an deren Bryozoen unterscheidet, besteht darin, daß die Individuen sich nur auf einer Seite des Stockes, also in einfacher Schicht befinden.
Die Erhaltung im fossilen Zustande verdanken sie der Erhärtung und Verknöcherung des größten Theiles der Leibeswand, welche dadurch zu einer »Zelle« wird, in welche sich der immer weich bleibende Vordertheil des Thieres zurückziehen kann. Die so wechselnde Form der Stöcke [177] hängt von der speciellen Art der Knospenbildung ab. Nachdem nämlich das aus dem Eie gekommene Wesen sich fixirt hat, wird der Stock durch Knospenbildung aufgebaut. Indem bei jeder Sippe und Art die Knospen an bestimmter Stelle hervorbrechen und eine bestimmte Lagerung zu den Mutterindividuen annehmen, resultiren infolge kleiner Abweichungen doch die verschiedensten Kolonieformen. Da jedes Individuum des Stockes zu bestimmter Zeit auch Eier und Samen hervorbringt, so ist für die Vermehrung in ergiebigster Weise gesorgt. Man kann am Meeresstrande binnen wenigen Tagen eine reiche Ernte an Bryozoen machen. Man braucht nur Haufen von Tangen sich nach Hause bringen zu lassen, um fast an jedem blattartigen Theile dieser niederen Pflanzen gewisse Arten anzutreffen; und wo der Meeresboden nicht gar zu steril und ungünstig ist, sind die Steine und die noch vollen und die leeren Schneckengehäuse und Muschelschalen mit Bryozoenstöcken besetzt, welche man allerdings oft erst bei sorgsamer Durchmusterung mit der Lupe entdeckt.
Daß unsere Thierchen in dem großen Konzert der organischen Welt keine große Rolle spielen, ist aus dem Obigen klar. Ihre Anzahl ist aber wieder so erheblich, das Detail ihrer Organe, die Art und Weise ihrer Knospenbildung und Fortpflanzung so mannigfaltig, daß die Beschäftigung mit ihnen ein Naturforscherleben auf Jahre auszufüllen im Stande ist, wie die umfangreiche Literatur über dieselben beweist. Die Hauptmomente für die systematische Eintheilung sind der Beschaffenheit des Mundes und der Fühlerkrone entnommen, wie wir wenigstens durch einige Beispiele zu belegen versuchen werden.
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