[182] Es bildet ein Talent sich in der Stille,
Sich ein Charakter in dem Strom der Welt.1
Diese Dichter- und Seherworte, wie sie tausendfältig von jeher sich bei vielen bestätigt haben, erkenne ich auch an mir recht in ihrer Wahrheit, indem ich hier auf meinen frühern Lebensgang zurückblicke. Oben schon sagte ich, wie eigen mich das Doppelgängerhafte meiner Gestalt in jenen Jahren oft berührt habe, wie namentlich, neben manchem Tiefsinnigen und Tüchtigen, was dabei im stillen doch fortwuchs, so viel Unfertiges, Halbes, ja fast Kindisches zuweilen aus den Briefen jener Zeit mich anblicke, und gebe ich nun acht, wodurch gerade das nach und nach sich gänzlich verloren und ausgeglichen hat, so muß ich allerdings erkennen, daß es insbesondere die immer weitschichtigern Kombinationen des Lebens und die immer mannigfaltigern Berührungen mit bedeutenden Individualitäten gewesen sind, welche endlich zu entschiedenern Formen mich gefördert haben, wobei natürlich denn auch kleinere und größere Reisen vielfach und kräftig mithelfen mußten.
Ist es doch so sonderbar, das Leben, wenn man es im einzelnen nimmt, scheint so gleichmäßig; Tag reiht sich an Tag, mit wenig Abwechslung erscheinen dieselben Personen und Gegenstände – man zweifelt oft, daß die Zeit fortrückt! So scheinen die Himmelskörper selbst fast unbeweglich ihre Stelle zu behaupten; und doch, wie ein Stern nun gleich wieder an ganz anderer Stelle steht, wenn wir lange nicht nach ihm gesehen haben, so finden wir auch eine Lebensform sogleich ganz und gar verändert, wenn wir einige Zeit lang sie außer acht gelassen hatten.[183]
So fand ich also auch in Leipzig Örtlichkeiten und Individualitäten mannigfaltig fortgerückt. Ich lebte wieder zu Stunden mit Heinroth, Clarus, Rosenmüller und Joerg und tauschte Erlerntes und Erlebtes von allen Seiten ein; mein alter Freund Dietz war mit zeichnerischen Aufgaben zu einer neuen Ausgabe der Minnesänger beschäftigt und begleitete mich abends in meine wohlbekannten Eichenwälder, die am wenigsten ihr treuherziges Antlitz verändert hatten – und von neuern Persönlichkeiten kamen Ritterich, der später so rühmlich bekannte Augenarzt, und die jüngern Osiander und Langenbeck aus Göttingen mir näher.
Am meisten wurde ich mit Heinroth in Disputationen verwickelt, denn unsere Ansichten waren in drei Jahren meilenweit auseinandergerückt. In ihm waren seitdem gewisse pietistische Ansichten von der Sündhaftigkeit des Menschen als nächstem Grunde von Krankheit und namentlich psychischen Krankheitszuständen aufgetaucht, welche ich keineswegs teilen konnte und welche auch in ihm zuletzt nur auf unvollkommenen physiologischen Ansichten ruhten. Es war eigen, in dem Manne erschien, bei einer großen Volubilität und Verstandesschärfe des Geistes, eine gewisse Unfruchtbarkeit der Idee, die ich und manche seiner Freunde zuweilen wohl mit der Unfruchtbarkeit seiner Ehe (er hatte nie Kinder gehabt) in Verbindung zu bringen versucht waren. Da aber die Natur selbst in ihren großen Metamorphosen und wahren innern Produktivität ihm nie recht lebendig aufgegangen war, so suchte er gern nach gewissen facticen Erklärungen und supernaturalistischen Gründen für Erscheinungen, die mir und meinen Glaubensgenossen auf einem weit einfachern und ebenern Wege entgegenkamen. Wie es indes zu gehen pflegt, unsere Naturen waren zwar gewiß zu verschieden, um jemals eine vollkommene Verständigung zuzulassen;[184] da er jedoch lebendig, von freiem Humor und ein leichtgewandter Fechter mit Worten war, so dienten unsere Kontroversen doch uns gegenseitig zum besten und hatten den unfehlbaren Nutzen, daß jedem, anstatt den andern zu bekehren, seine eigene Ansicht und Meinung immer entschiedener und deutlicher vor die Seele trat.
Am 8. Oktober ging ich nach Halle ab, allwo unterdessen mein Freund Nasse die Professur der innern Klinik auf des verstorbenen Reil Antrieb übernommen hatte und wo damals der als Anatom so berühmt gewordene Johann Friedrich Meckel wirkte, dem ich bereits einige Abhandlungen für das von ihm neu herausgegebene »Archiv für Physiologie« zugesendet hatte. Ich wohnte bei Nasse, und gleich der erste Abend brachte reiche Diskussionen, gemischt mit freudigen Erinnerungen an die zwei Jahre früher zusammen verlebten Tage in Dresden und in den Felsentälern von Schandau. Die merkwerteste und schärfste Individualität aber, die mir überhaupt dort entgegentrat, war Meckel. Die Gebrüder Meckel gehörten zu einer von den wenigen Familien Deutschlands, in welchen bedeutende Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen ganz in einer und derselben Richtung, durch mehrere Generationen hindurch, zusammentrafen. Wie in den Bachs und Schneiders die Musik, so war hier vom Großvater bis zum Enkel die Anatomie in Fleisch und Blut übergegangen, und von dem Verbissensein in ihre Wissenschaft konnte es Kunde geben, wenn man auf dem anatomischen Theater den Schrank sah, in welchem der Vater dieses Meckel sein eigenes Skelett aufzustellen befohlen hatte, eine Anordnung, welcher dann auch der Sohn durch sorgfältiges Abpräparieren der Knochen des Vaters pünktlich Folge geleistet hatte. Scheinen doch selbst die Frauen an diesen Passionen Anteil genommen zu haben, denn man versicherte mich, daß die diesen alten Herrn überlebende Ehehälfte, als man[185] ihr die Nachricht brachte, daß beim Skelettieren des seligen Professors die anatomische Merkwürdigkeit sich ergeben, daß statt zwölf Rippenpaaren hier dreizehn vorhanden waren, sie freudig bewegt ausgerufen habe: »Ach! Hätte mein lieber Mann doch das noch erfahren.«
Mich interessierte indes mehr als das Skelett des toten Professors, wenngleich es das einzige geblieben ist, das mir vorgekommen (obwohl es doch sonst eigentlich an trockenen Professoren nicht mangelt), die große treffliche Sammlung vergleichend anatomischer Präparate, welche mit unsäglichem Fleiße durch den Lebenden geschaffen war. Die Seeküsten Italiens hatten ihm hier reichen Stoff geboten. Zum erstenmal sah ich manche seltsame Organisation in der Wirklichkeit, welche ich in meinem zootomischen Lehrbuche nur nach Beschreibung und Abbildung verzeichnet hatte, und man kann denken, daß ich mich hier sobald nicht trennen konnte. Dabei war dazumal mir Meckel freundlich und gefällig, denn noch hatte ich ihm keine Eifersucht erregt, und so konnte ich manche Notiz aufnehmen und manche Form festhalten, die bei der letzten Handanlegung an meinem Werke mir ganz wohl zugute kam. Weiterhin, als dies Buch große Teilnahme erregte und mehrere ähnliche Arbeiten von mir folgten, wurde er mir auffallend feindselig und suchte sogleich mir möglichst Abbruch zu tun. So war es denn auch schon zwischen ihm und Nasse, der mit seinem großartig bequemen Wesen ihn nicht gerade immer schonte, zu argen Zerwürfnissen gekommen, und an einem der nächsten Abende, wo wir alle bei Nasse zu heiterer Geselligkeit uns versammelt hatten, mußte ich selbst erfahren, wie eine leichte wissenschaftliche Kontroverse bald zu dem ärgerlichsten und verdrießlichsten Gezänk zwischen den beiden ausging. Bei alledem lernte ich doch mehr von ihm als von meinem weichern Freunde, und wenn schon die Perser sagen: »Ein[186] Messer wetzt das andere und ein Mann den andern«, so erfuhr ich hier, daß, wie ein härterer Stahl mehr schärft als ein weicher, auch gerade solch harter, eckiger Charakter, wenn er sonst mit einem gehaltvollen Geiste verbunden ist, mehr anregend und aufrufend wirkt als ein sanfter.
Ein schöner Herbstmorgen wurde übrigens auch benutzt, die hübschen Saalufer in der Umgegend von Halle zu sehen. Das alte Giebichenstein mit seiner Fensterruine, aus welcher Ludwig der Springer einst hinab zum bereitgehaltenen Kahne sich gerettet haben soll, blieb nicht ungezeichnet, und da oben, in erwärmender Sonne gelagert und hinabblickend auf die anmutigen Flußbiegungen, umkränzt mit herbstlich buntbelaubtem Gebüsch und Bäumen, überdachte ich die mannigfaltigen Eindrücke der letzten Tage. Manche artige Gärten liegen auch da in der Nähe, man zeigte mir des nur vor kurzem verstorbenen Reil Berg sowie den wohlangelegten Garten des ehemals gerühmten Liederkomponisten Reichardt, den auch Goethe dort zuweilen besucht hatte. Man erzählte mir dabei noch den deutschtreuherzigen Zug von dem Musiker, daß, als das erstemal Goethe dorthin kam und anfänglich, ohne sich zu erkennen zu geben, unter Leitung des Besitzers die hübschen Aussichtspunkte des Gartens besuchte, dann aber beim Fortfahren seinen Namen genannt hatte, Reichardt schnell ins Haus sprang, seine Frau rief und dieser noch den in einer Staubwolke schon weit fortrollenden Wagen zeigte, mit den Worten: »Frau, dort fährt Goethe!«, wobei die Arme freilich nun nichts mehr von dem großen Poeten gewahr werden konnte. Indes haben ihn doch wohl sehr viele von Angesicht gesehen, die darum auch nichts weiter von ihm gewahr geworden sind als diese Frau!
Nachdem ich auch noch Nasses Klinik und Irrenhaus und[187] dann einen alten Freund aus meinen Leipziger Studienjahren, den zu dieser Zeit doch schon sehr kränkelnden und bald nachher verstorbenen Kaulfuß, besucht hatte, welcher mir seine schönen Arbeiten über die Entwicklung der Farnkräuter vorzeigte, die es anschaulich machten, wie diese merkwürdig zarten Pflanzengestalten in ihren Metamorphosen die ihnen vorhergehenden Pflanzenfamilien der Algen und Jungermannien so bedeutungsvoll wiederholen, ging ich nach Leipzig zurück, weilte noch ein paar Tage unter den dortigen Gelehrten und fuhr dann nach Berlin.
Schon die weitschichtige Architektur von Potsdam mit den breiten Wasserflächen der Havel und dem Marmorpalais daran, dann die Größe der Hauptstadt selbst mit ihrem Schlosse, ihren Linden und Brandenburger Tore, welches erst seit kurzem durch die wiedereroberte Quadriga geziert war, machten einen erweiternden Eindruck auf mich, das Volk aber – die preußische Nationalität – die damals durch die großen Ereignisse so mächtig gehoben war, steigerte diesen Eindruck noch vielfältig und gab mir gar allerhand zu bedenken. Ist es doch sonderbar mit unserm deutschen Vaterlande beschaffen! Im allgemeinen wird es als ein großer Nachteil dargestellt, daß die einzelnen Charaktere des Schwaben, Franken, Österreichers, Bayern, Sachsen, Preußen, Westfalen usw. so scharf abgesondert nebeneinanderstehen und daß Germania nie eine Einheit werden will, und wer wollte auch leugnen, daß manches Schlimme daraus für uns erwächst; allein, einem großen Naturgesetze zufolge, könnte man doch auch hinwiederum behaupten, daß gerade durch diese innere Spaltung in so viel deutlich abgegrenzte Volksstämme Deutschland im Gegenteil und in Wahrheit eine höhere Stellung bewähre gegen alle andern europäischen Nationen.
Die große Verschiedenheit jedoch so nahe liegender Volksstämme,[188] wie die der Sachsen und Preußen, sie kam mir jetzt eigentlich zum erstenmal recht im großen zur Anschauung und gab mir während jenes ganzen Berliner Aufenthalts ebensoviel zu überlegen als das mannigfaltige Neue, was in wissenschaftlichen Anstalten und Persönlichkeiten sich darbot. Es ist sonderbar, der Preuße wohnt nördlicher als der Sachse und steht doch eigentlich zu ihm fast in dem Verhältnisse des Südländers zum Nordländer. Ihm ist größere Lebendigkeit, Frischheit, Schnelligkeit des Mutterwitzes, aber auch größere Voreiligkeit, Eitelkeit und geringere Gründlichkeit eigen, und wenn im sächsischen Charakter, seinem denkenden Wesen, seinem Kosmopolitismus, seiner größern Gemütstiefe und seiner Ausdauer nach, vielleicht gerade das recht eigentlich Deutsche sich vorzugsweise abbildet, so regt sich im Preußen einerseits mehr eine normannische, andererseits auch wohl slawische Individualität. Die Folgezeit hat mir freilich erst, was ich damals nur ahnte, nach und nach in bedeutenden Erfahrungen zu größerer Klarheit gebracht, aber ich habe mich manchmal gewundert, daß die Aufgabe, diese widerstreitenden Gegensätze und auch wieder deren wechselseitige Anziehungen recht vollkommen darzustellen, niemals tiefer gehende Bearbeitungen gefunden hat. Das zierliche Bild, welches Lessing in seiner »Minna von Barnhelm« zum Teil auch von diesem Verhältnis entworfen, wird selten eben in solcher Beziehung genugsam geschätzt.
Nachdem ich also in Berlin mich in einer kleinen Wohnung einigermaßen eingerichtet hatte, war meine erste Fahrt nach der Charité, welche damals zur Hälfte unter der Leitung von Geheimrat Horn stand und als eine der größten Krankenanstalten Norddeutschlands besonders Anteil an dem Wunsche gehabt hatte, Berlin kennenzulernen. Horn empfing mich sehr freundlich. Er war zu[189] jener Zeit in den vierziger Jahren, etwas hager und ernst, aber von intelligentem Ausdruck und keineswegs abstoßendem Äußern. Namentlich interessierte mich die seiner besonderen Aufsicht untergebene Irrenanstalt, in welcher ich eine neue Hausordnung eingeführt fand, über deren Strenge man ihm gerade um diese Zeit einen sehr unangenehmen Prozeß angeregt hatte, indem eine in Wahnsinn tobende Kranke auf seine Anordnung in einen weiten Sack gesteckt worden, darin aber am Schlagfluß plötzlich verstorben war. Übelwollende, und zwar hauptsächlich sein Nebenarzt, Professor Kohlrausch, hatten diesen Todesfall, als durch Erstickung veranlaßt, ihm zum harten Vorwurf gemacht, und es führte dies zu Weiterungen, in deren Folge im nächsten Jahre Horn denn auch seine Stelle niederlegte. Wir sprachen viel über Geisteskrankheiten, ein Kapitel, über das ich mit Heinroth oftmals weitläufig verhandelt hatte, und er gab seine Überzeugung dahin ab, daß, da die tiefen innern Veranlassungen dieser seltsamen Abirrungen oft so wenig ermittelt werden können, die strenge Gewöhnung der Kranken an eine sehr regelmäßige und stundenweise wechselnde Tätigkeit gewiß immer eins der wichtigsten allgemeinen Mittel darbiete, allmählich die abschweifenden Gedanken wieder in die rechten Bahnen zu lenken, eine Ansicht, die jedenfalls viel Wahres enthält. So fand ich denn nun wirklich, als wir die Säle durchgingen, alles in irgend bestimmter und durch strenge Aufsicht der Aufwärter festgehaltener Tätigkeit. In dem einen Saale wurden gerade zu dieser Stunde Handarbeiten gefertigt, in dem andern saßen die Irren um lange Tafeln und mußten zeichnen, was sie nun eben vermochten und konnten; wieder in einem andern gab man Stunde in Geographie, und alle die Kranken hatten Landkarten vor sich; nochmals in einem andern wurde exerziert usw. Hätte ich damals schon die Anschauungen[190] gehabt über Kranioskopie und Symbolik, die mir später aufgegangen sind, so würden mir hier die Individualitäten freilich schärfer charakterisiert erschienen sein, als ich gerade zu jener Zeit sie aufzufassen vermochte. Bei alledem ergriff mich einiges doch schon dort so bedeutend, daß die Erinnerung mir noch jetzt lebendig gegenwärtig ist. Es gehörten dahin besonders die Wahnsinnigen, welche aus den großen Jahren 1813/15 – das heißt aus der Erhebung Deutschlands – die Veranlassung ihrer Krankheit datierten; denn wohl ist es das Eigentümliche aller großen Bildungs- und Umwandlungsepochen der Menschheit, daß die wahrhaft fähigen Geister dadurch zwar zu eminenten Höhen sich gehoben finden können, während dagegen die schwachen oder mit Krankheitsanlagen behafteten dadurch auch oftmals geradezu umgeworfen oder zu Wahnsinn und Monomanien abgelenkt werden. Da saßen zum Beispiel in der Zeichenstunde einige solche Männer – früher erfaßt von gewaltiger Aufregung gegen die fremden Unterdrücker und in öffentliche Dienste des Zivils oder Militärs für dergleichen Zwecke sich stürzend, denen aber das Schicksal die Klarheit ruhiger Geisteskraft versagt hatte und die nun gleichsam in ihren eigenen Gefühlen und Gedanken untergegangen waren –, die Sturm- und Drangperiode ihres Innern schien mit ihrer Vernunft durchgegangen, in irren Blicken rollten ihre Augen, und mechanisch zeichneten ihre Hände die wunderlichsten Gestalten auf das Papier, Gestalten, die eben in ihrer Überschwenglichkeit die deutlichsten Verräter ihres konfusen Innern wurden. Einer malte hier seltsam aufgetürmte Schlangenleiber, mit Fahnen phantastisch dekoriert, der andere zeichnete Himalajas von Bergen, deren Gletscher er noch mit den abenteuerlichsten Türmen und Burgen verzierte, der andere endlich dachte sich die seltsamsten Ungeheuer aus; für alle aber existierte in diesen Augenblicken keine[191] ihrer wirklichen Umgebungen, und nur das neue Antreiben der Wärter zur Fortsetzung der Arbeit konnte sie dann minutenlang wieder aus ihrer Erstarrung, ihrem Absorbiertsein, erwecken.
Man stritt damals in medizinischen Blättern viel darüber, ob Zwangsbeschäftigungen dieser Art einen großen Nutzen zur Heilung der Wahnsinnigen gewähren könnten, und wenn man allerdings weiterhin sah, mit welchen Zwangsmitteln außerdem noch Widerstrebende genötigt wurden, sich diesen Anordnungen zu fügen, Zwangsmittel, zu denen Horn namentlich die Drehmaschine und den Drehstuhl rechnete, auf welchen der Kranke ein paarmal im Kreise herumgewirbelt wurde, bis er blindlings befolgte, was ihm aufgegeben war, so drängten sich freilich manche gerechte Zweifel ein, ob nicht des Guten hierbei etwas zu viel geschehen möchte. Soviel ist wenigstens gewiß, daß mit Horn dieses System der Behandlung dort aufgehört hat und auch in keiner andern Anstalt mit dieser Konsequenz wieder durchgeführt worden ist; einiges davon möchte indes sicher mit Nutzen der Vergessenheit entrissen bleiben.
In den chirurgischen Abteilungen der Charité war es mir interessant, noch zwei Notabilitäten alter preußischer Militärärzte zu begegnen, Rust und Mursinna. Der letztere war schon ein Siebziger, doch sah ich ihn noch mit Leichtigkeit und Sicherheit eine schwierige Operation2 verrichten. Beide hatten in vielen Feldzügen und Schlachten ihre Tätigkeit bewährt und auch von ihrer Seite den Ruhm des preußischen Heeres aufrecht gehalten.
Der Tag verlief dann noch unter Betrachtung mancher öffentlicher Baulichkeiten, und da es gerade der 18. Oktober war, so führte mich abends Osann, ein jüngerer Verwandter und Assistent von Hufeland, hinaus auf den großen[192] Turnplatz der Hasenheide, wo Jahn, der Vater deutschen Turnwesens, mit seinen jungen Scharen das Gedächtnis der Völkerschlacht von Leipzig feierte, welches freilich mir, der ich sie in der Nähe miterlebt hatte, am wenigsten entschwunden sein konnte.
Es war ein echt preußisches Jugendfest, und wenn ich mich jetzt der damaligen Aufregung, der großen Hoffnungen für Deutschlands Zukunft und der frischen Begeisterung erinnere und dann der Gegenwart gedenke, so geht es mir wie dem König im »Hamlet«, und ich habe in einem Auge das Lächeln, im andern die Träne. Es gab einen hübschen Anblick, die lodernden Feuer, das Turnen in Masse um das auf dem Sandhügel aufgerichtete Kreuz, hinter welchem eben das erste Viertel des Mondes hinabsank! Auch der Gesang der Turner klang hell in die Nacht hinein und hätte eigentlich durchaus freudig stimmen sollen, und doch kam mir auch manches in diesen und ähnlichen Dingen forcierter vor, als es der wahrhaft deutsche Charakter verlangte, so daß es endlich etwas ins Gegenteil umschlug und manche unheimliche Ahnung erweckte. Immer jedoch ist es mir lieb, aller dieser Vorgänge lebhaft gedenken zu können; denn ich erlebe es zu oft, wie wenig Personen, denen diese ersten gewaltigen Schwingungen neuerer deutschen Geschichte niemals gegenständlich gewesen sind, die spätern abklingenden Schwingungen richtig zu bemessen und zu verstehen geeignet sein können.
Es waren indes nicht bloß die Naturwissenschaften und die Heilkunde, die dort mir Früchte trugen, sondern dieser Aufenthalt sollte mir auch wichtig werden für eine Kunst, deren ich hier in den frühern Blättern noch gar nicht gedacht habe und welcher ich doch in spätern Jahren Unschätzbares verdanken sollte: für die Musik. Es war sonderbar, daß so lebendig schon in früherer Zeit meine[193] Neigung für Form und Malerei war, so wenig reizten mich damals Töne und musikalische Kunst. Ich hatte zwar, wie früher erwähnt, als Knabe lange Klavierunterricht gehabt, hatte als junger Mann wohl auch gespielt und Zumsteegs Balladen gesungen: von dem innern Geheimnis der Musik aber war mir kaum eine Ahnung aufgegangen, und nur erst in Dresden, als ich anfing, mitunter die Musikaufführungen in der Katholischen Kirche zu besuchen, mahnte es mich seltsam an ein Mysterium, welches in der Tonwelt verborgen liege und wohl einst auch mir aufgehen könnte. Bei alledem war es mir noch nicht ganz klargeworden, ob es nicht, wenn ich mich in den Vespern der Herbsttage dort an einen Pfeiler lehnte, mehr das Dämmerlicht an den weiten Wölbungen jener Kirche war, gemischt mit einzelnem Kerzenschimmer aus den Betstühlen der dann gewöhnlich nur spärlich versammelten Gemeinde, sowie das Symbolische des Altardienstes überhaupt, welches dann, mehr als die Musik, meinen Geist in Gedanken versenkte. Und da sollte ich also jetzt plötzlich die Macht eines großen Psalms von Fasch und der besten Motetten von Haydn erfahren, wie sie mir bei einer solennen Aufführung der Singakademie unter Zelters Leitung aus 300 wohlgeschulten und gebildeten Stimmen entgegenklang! Ich darf wohl sagen, der Eindruck ist mir unvergeßlich geblieben und half mächtig mit, das Sprengen der Hülle vorzubereiten, unter welcher mir so lange das Rätsel der Harmonie verborgen lag.
Durch Osann hatte ich Zelter persönlich kennenlernen, und es ist mir gar wichtig, daß somit auch diese bedeutende Individualität, welche Goethe lange Jahre so nahegestanden hat, einstmals deutlich durch mein Sehfeld gegangen ist; denn nicht Jahre zu erleben ist es, wonach das Leben zählt, sondern Ereignisse, Personen und innere geistige[194] Entwicklung sind es, welche seinen Wert bestimmen. Zelter war damals ein Sechziger, seine kräftige männliche Gestalt mit markigen Zügen eines wohlgebildeten Hauptes trat mir entschieden entgegen; wir sprachen manches über Dresden und seine musikalischen Kräfte, und obwohl unsere Unterredung nur kurz war, fühlte ich doch das Inhaltreiche des Geistes, dem ich gegenübergestanden hatte, vollkommen. Es ist Zelter oftmals, namentlich nachdem seines Korrespondenz mit Goethe gedruckt war, Unrecht geschehen, indem man ihn im Vergleich zu diesem Mächtigen oft so ganz gering anschlagen wollte; wer aber ihn persönlich gekannt und seine Briefe näher angesehen hat, kann unschwer lernen, warum ein solcher Genius gern mit ihm verkehrte. Die Macht seiner Persönlichkeit war übrigens auch in einer solchen Gesangsaufführung recht wohl zu fühlen! Man vernahm, wie jeder Chor von einem Geiste rein durchdrungen war, und es machte mir Freude, als ich im Herausgehen mich unter die zur Akademie gehörigen Damen mischte, zu hören, wie in allen jetzt nur eben der Gedanke lebte, ob auch die Aufführung seinen Beifall ganz gehabt habe. Indes er war auch mit Leib und Seele bei seinem Chor, und wenn man in seinen Briefen liest, wie er den Zusammenklang dieser Stimmen so genau kannte, daß er oft nach deren verschiedener Temperatur die Witterungsänderungen voraussagte, so blickt man ganz und gar in sein Wesen hinein! Er war Musiker durch und durch und dabei eine derbe altpreußische Natur. Ich weiß, daß ihm einst jemand die Musikaufführungen in der Katholischen Kirche zu Dresden lobte, deren große musikalische Resonanz er wohl zur Genüge kannte, obwohl ihm die Wahl der Sachen dort nicht immer recht zu Sinne sein mochte; und er antwortete: »Oh, und wenn man da die Katze in den Schwanz kneift, es wird immer gut klingen!«[195]
Unter mancherlei, was mir sonst in jenen Tagen in Berlin an Sehenswürdigkeiten noch aufstieß, muß ich doch auch erwähnen, daß ich dort am Tiergarten auf der Spree das erste kleine Dampfschiff sah, das mir vorgekommen ist. Es war wirklich das erste in Deutschland erbaute! Es war von Humphreys zu Pichelsdorf an der Spree erbaut worden und sollte zwischen Hamburg und Berlin fahren, wurde aber wenig benutzt und ging bald ein. Ich besitze noch eine flüchtige Zeichnung, die ich an Ort und Stelle mir davon entworfen hatte, und weiß, daß es die Neugier vielfältig beschäftigte, obwohl es von vielen Superklugen der Zeit als eine ganz müßige Erfindung betrachtet wurde, die unmöglich große Resultate haben könne. Es erinnert mich das lebhaft an die erste Gasbeleuchtung, die ich als Knabe in einem Gartensaale zu Leipzig zur Meßausstellung eingerichtet sah und von welcher auch noch niemand die ungeheuern Anwendungen ahnte, zu denen sie später geführt hat.
Gas und Dampf, diese gewaltigen Hebel der Zustände gegenwärtiger Menschheit! Die neue Generation weiß es schon gar nicht mehr, wie die vorübergegangene unter Mühe und Not zu jenen großen Besitztümern gekommen ist, die dieser nun so ganz unverdientermaßen zugefallen sind; ja anstatt dankbar und bescheiden ihr gutes Teil dahinzunehmen, verfährt sie oft wie ein ungezogener Erbe eines reichen Vermögens und verpraßt aufgeblasen, als ob es so sein müßte, diese Güter in Eitelkeiten und Leerheit, anstatt sie in würdiger Weise allein dem Vorschreiten gegen höhere Menschheitszustände zu widmen.
Endlich habe ich denn hier auch noch eines wunderlichen Abends zu gedenken, den ich in dem mesmerisch-magnetischen Kreise des Dr. Wolfart zugebracht habe. Schon meine kleine Hauswirtin, Frau eines Mützenmachers auf[196] der Mittelstraße, hatte mir gelegentlich erzählt, daß mit vielen andern auch sie Herrn Dr. Wolfarts magnetisches Baguet besuche und daß sie teils unmittelbar große Linderung davon für ihre nervösen Zufälle spüre, teils dabei oder nachher auch besondere Träume habe, die ihr anzeigten, was weiter zu tun sei, um allmählich zu einer guten Gesundheit zu gelangen. Ich hatte schon vielfach von diesen magnetischen Sessionen gehört, und man kann denken, daß nicht die schonendsten Urteile unter dem ärztlichen Publikum darüber gefällt wurden. Seit Mesmer waren Unternehmungen der Art im großen kaum wieder versucht, und natürlich fühlte ich mich daher gereizt, die Gelegenheit auch zu dieser Erfahrung nicht ungenutzt zu lassen. Ich machte zuerst Wolfart selbst meinen Besuch und fand einen kleinen, etwas untersetzten Mann mit einem gewissen unsteten Blick und geschäftigem Wesen, welcher mir alsbald die Erlaubnis gab, einer magnetischen Abendsitzung beizuwohnen. Ich hätte gern gesehen, daß er mir vorher die Experimente an der Magnetnadel vorgezeigt hätte, von denen damals in einem von ihm herausgegebenen magnetischen Journal – »Asklepiäon« genannt – und sonst vielfach gesprochen wurde, aber ich war nicht so glücklich. Er behauptete nämlich, allein durch seine magnetische Kraft die Magnetnadel ablenken zu können, wovon indes die Berliner Physiker, Humboldt an der Spitze, durchaus nichts wissen wollten.
Als ich nun abends in das Heiligtum des Magnetismus eingeführt wurde, bot sich mir ein sonderbarer Anblick dar. Der ziemlich große Saal war spärlich erleuchtet, man trat ein unter herabrollenden Vorhängen, und rings an den Wänden standen hinter ähnlichen Vorhängen und spanischen Wänden Sofas und Armsessel in noch tieferm mystischen Dunkel. In der Mitte des Saales stand das große Baguet. Man kann in Mesmers und Puysegurs Schriften[197] nachlesen, wie aus Feilspänen, Glasscherben, Kohlen usw. mit einer durchgehenden Eisenstange ein solcher magnetischer Kondensator konstruiert werden soll; hier sah die Maschine aus wie ein großer, aber nicht hoher Ofen, aus dem eine starke Eisenstange heraufragte, an welcher weiter oben eine Anzahl breiter bunter Wollenbänder befestigt waren, deren eins jede der Kranken, die im Kreise auf Stühlen um das Baguet saßen, mit dem freien Ende in die eine Hand bekam, damit dann mit der andern Hand durch regelmäßiges Herabstreichen das magnetische Fluidum den Nerven zugeführt werden könne, was nach der Gläubigen Meinung in dem Eisenstabe aufsteige und durch die leitenden Bänder sich ausbreite.
Man denke sich denn die seltsame Erscheinung: in all diesem Halbdunkel und zwischen all den Schirmen und Vorhängen eine Anzahl von zehn oder zwölf Kranken, meistens Frauen und Mädchen, die in größter Stille mit Streichen an jenen Bändern einen geheimnisvollen Selbstmagnetismus ausübten! Zwischendurch schritt Wolfart gleich einem Magier umher, hier und da hörte man ein leises Flüstern über die kommenden oder ausbleibenden Wirkungen, und plötzlich mußte auch wohl eine der in Schlaf fallenden Kranken (mir schien mehr Langeweile, Affektation, höchstens auch wohl überreizte Imagination die Ursache) fortgeführt oder fortgetragen werden, um dann auf einem der Sofas oder Armsessel hinter den Schirmen nun den sogenannten magnetischen Schlaf- und Traumzustand abzuwarten. Ich gab ziemlich lange einen Zuschauer dieses etwas unheimlichen Schauspiels ab und hätte freilich wohl, bevor ich ging, etwas tiefer in die Geschichte aller der dort Streichenden und Schlafenden eindringen mögen; etwas romanhafte Verhältnisse würden sich dabei öfters herausgestellt haben!
In nicht zu langer Zeit endigte sich denn auch in Berlin,[198] wie mehrfach schon an andern Orten, die magnetische Anstalt und mit ihr Wolfarts Wirksamkeit, und zwar wirklich als ein unglücklich ausgehender Roman.
Es ist recht sonderbar, wie so vieles in der Welt sich nie ins rechte Gleichgewicht stellen zu können scheint, so auch die so inhaltsschwere Angelegenheit des Lebensmagnetismus!3 Was für merkwürdige und außerordentliche Kräfte liegen hier verborgen! Wie ungeheuer wichtig vermag er zu werden, um Leiden zu beschwichtigen, Krankheiten zu bekämpfen, die gesamte Lebensenergie zu heben; und wie selten wird sein Wesen verstanden und seine Heilkraft richtig aufgerufen. In einer mehr als vierzigjährigen ärztlichen Tätigkeit habe ich nur in sehr gewählten Fällen davon Gebrauch gemacht und dann die außerordentlichsten Wirkungen davon gesehen, und sieht man sich um in der Welt, wie oft ist er verworfen oder vergessen worden und zu wieviel Scharlatanerie und unreinen Absichten hat man ihn mißbraucht! Eben indes, weil die rechte Anwendung dieser Kräfte immer etwas Mysteriöses behalten wird (nämlich nicht, als ob etwa die Kräfte selbst wunderbar wären und nicht in den Kreis anderer physiologischen Erscheinungen des Nervenlebens gezogen werden könnten, sondern weil ihre Anwendung immer als ein gewisses Geheimnis im Verhältnis des Magnetisierten und Magnetiseurs erscheint), halte ich dergleichen gemeinsame Institute, wie sie mehrfach versucht worden sind und wie eben das oben beschriebene von Wolfart war, allemal für durchaus unangemessen und zweckwidrig; mag man doch eine Heilgymnastik und mag man Brunnenkuren und dergleichen gemeinschaftlich unternehmen lassen, ein Magnetisieren en masse hingegen[199] wird allemal entweder absurd werden oder zu noch unangenehmern Konflikten führen.
Buchempfehlung
»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.
530 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro