VI.

[200] Der Winter 1817/18 verging mir, wie man schon aus Früherm entnehmen konnte, zumeist unter Vollendung meines vergleichend anatomischen Handbuchs, zugleich aber bereitete sich in meinem Geiste eine Arbeit vor, die mich dann das ganze folgende Dezennium, also bis zum Jahre 1828, mit unsäglichen Studien festgehalten hat; nämlich mein großes Werk »Von den Ur-Teilen des Knochen- und Schalengerüstes«. Diese Aufgabe ist mir eine zu wichtige, eine zu tief mit meiner ganzen naturwissenschaftlichen und philosophischen Richtung verflochtene geworden, als daß ich hier sie nicht etwas ausführlicher besprechen, ja – wie die gegenwärtige Stimmung und Tendenz dieser Literatur ist – sie gewissermaßen rechtfertigen müßte. Denn so sonderbar ist die Welt gestellt, daß der ernste Wille, die umsichtige Kenntnis, die mühsamste Ausdauer für irgendein größeres Unternehmen oft ebensosehr zu einer Zeit dem Tadel unterliegen als zur andern gepriesen werden kann, je nachdem im geistigen Leben der Menschheit dieser oder jener Wind weht und diese oder jene Ansichten die herrschenden geworden sind. Namentlich in den Naturwissenschaften hat hierin von jeher eine große Mannigfaltigkeit der Zustände geherrscht, indem, da in letzter Instanz die Erklärung aller physischen wie psychischen Zustände in ein nie völlig zu durchdringendes Geheimnis verhüllt ist, man es der Menschheit unmöglich verdenken kann, wenn sie immer neue und gelegentlich auch wohl wieder die alten Methoden[200] versucht, um einem an sich nie vollständig zu Entschleiernden doch durch Approximation mindestens etwas mehr Aufklärung abzugewinnen.

Auf diese Weise hatte ich demnach schon zeitig bei der Ausarbeitung meiner Schrift über Nervensystem und Gehirn nicht geruht, bis ich ein gewisses klares genetisches Prinzip in der Entwicklung dieser Formen aufzufinden und darzustellen vermochte, und später war mir dann immer mehr und mehr deutlich geworden, daß wenn es irgendeine Bildungsreihe organischer Formen gebe, an welcher es möglich sei, das Offenbarwerden einer einzigen höhern Grundidee mit größter Schärfe und Konsequenz mathematisch nachzuweisen, so müßte das diejenige sein, durch welche – als durch starke gleichsam architektonische Substruktionen – überall die Gestaltung des Lebendigen gemodelt und bestimmt wird: also die Bildungsreihe des Skeleton.

So war mir denn nach und nach der Gedanke gekommen, an diesen Formen, gleichsam wie an einem Schema, es auf alle Weise durchzuführen, wie die Natur in ihrem Schaffen jenem Magier gleich verfahre, der aus einigen wenigen höchst einfachen Elementen ebenso durch immer neue Kombination, Versetzung, Beugung und Umkehrung die allerheterogensten und vielfachsten Erscheinungen hervorgehen läßt, wie etwa die Sprache aus wenigen Buchstaben und Zeichen die mannigfaltigsten Formen der Rede hervorruft. Man kann nun aber denken, daß bei einem so ungeheuer reichen Stoff diese Durchführung kein leichtes Unternehmen war, daß die unsäglichsten Vergleichungen, Unterscheidungen, Überlegungen nötig wurden, um in diesem Chaos den Ariadnefaden der Idee nicht zu verlieren, vielmehr endlich dem eigentlichen Zielpunkte der Arbeit möglichst nahe zu kommen; und wenn schon Menschen, welche sich irgendein abstruses,[201] aber weitaussehendes Unternehmen vorsetzen, als etwa den Rösselsprung im Schachspiele durch alle seine Möglichkeiten zu verfolgen oder nachzusuchen, wie oft irgendein Buchstabe in der Bibel vorkommt usw., bloß der Unabsehbarkeit des Gebarens wegen eine Leidenschaft dafür empfinden können, so wird man mir glauben, daß hier, wo auch ein Unendliches und noch dazu ein höchst Bedeutungsvolles und Schönes vorlag, ich eine wahre Leidenschaft für das Unternehmen fassen konnte und es viele Jahre mit einer fast unbegreiflichen Tenazität verfolgen mußte.

Hat man aber bei Betrachtung eines menschlichen Lebensganges irgendworan das rechte deutliche Zeichen, daß jeglicher einzelne nur als organischer Teil der gesamten Menschheit besteht und fortwächst, so ist es die Wahrnehmung, wie für gewisse besondere Lebensaufgaben und Lebensepochen meistens auch gerade die rechten fördernden Persönlichkeiten heranzutreten und mitzuwirken pflegen. Wie oft wird man da bemerken: jetzt möchte vielleicht ein Leben stocken oder im Fließen sich gar rückwärts wenden; aber soll die Aufgabe überhaupt begünstigt werden, so stellt sich dann sofort eine sich irgend geneigte zeigende, besonders mächtige, besonders anregende, auch wohl im guten Sinne bewahrend zurückhaltende Persönlichkeit ein, und eine neue Begeistigung erwacht und ein kräftiges Vorwärtsgehen findet statt.

Viele Erfahrungen dieser Art habe auch ich gemacht im großen wie im kleinen, und so darf ich, in Beziehung auf Entwicklung meiner philosophischen Ansichten im allgemeinen sowie in bezug auf schärfere Kritik und strengere mathematische Anschauungen, wie sie mir zur Durchführung der obgenannten Arbeit über die Formenlehre des Skeletts unentbehrlich waren, es wohl als sehr wichtig aufführen, daß gerade um die Zeit ein Mann mir nähertreten[202] mußte, dessen scharfe philosophische Methode und tiefe mathematische Kenntnis durchaus bedeutend für mich werden sollte. Dieser Mann war Karl Christian Friedrich Krause, welcher damals mit seiner Familie von Berlin, wo er seit der Kriegszeit gelebt hatte, sich nach Dresden wendete, nachdem er von einer im Jahre 1817 durch Italien und Frankreich gemachten Reise eben zurückgekommen war. Er war etwa ein Jahrzehnt älter als ich, untersetzter Gestalt, mit großem, mehr breitem, wenig behaartem Haupte und einer reinen ausdrucksvollen Gesichtsbildung, die Augen klar und scharfblickend, doch in ihrer Achsenstellung ein wenig auseinanderweichend, dabei in seiner ganzen Organisation und namentlich in den breiten, weichen Händen mit spatelförmigen Fingern den Ausdruck magnetischer Kraft unverkennbar tragend. In Wahrheit heilte er auch die Krankheiten seiner zahlreichen Familie großenteils nur auf diese Weise. Er wurde mir bekannt durch Lecerf, einen frühern Universitätsfreund, den eine leidenschaftliche Neigung zur Musik längst von Verfolgung seiner Rechtsstudien abgelenkt, dagegen jetzt mit Krause, dem in der Theorie der Musik allerdings Tiefbewanderten, in mannigfaltige Berührung gebracht hatte. Fast jedoch hätte das heftige Drängen ebendieses Freundes, mich für den Philosophen in ganz ungemessener Weise zu interessieren, gerade die entgegengesetzte Wirkung hervorgebracht und mich ihm mehr entfremdet, da diese Art von unbedingtem Enthusiasmus mir gewissermaßen unheimlich vorkam und von jeher etwas verdächtig gewesen ist. Jedenfalls blieb auch davon ein Eindruck zurück, der insoweit fortwirkte, mich von den Vorträgen Krauses und namentlich von seiner versuchten Begründung eines sogenannten »Menschheitbundes« entschieden fernzuhalten; eine Seite, die ich an sich nie für die wahrhaft heilbringende an diesem Geiste habe[203] halten können; denn nicht genug, daß sie es besonders war, welche ihn mit dem mächtigen Bunde des Freimaurerordens vielfältig entzweite und ihm selbst dadurch manches Unheil bereitete, so hat es mir auch immer geschienen, als ob die hier im Auge gehabte Vereinigung der Bessern unter den Menschen doch eigentlich überall nur als unsichtbare Kirche zur Geltung kommen könne, jeder Versuch aber, dergleichen in der Wirklichkeit unter gewissen festen Formen auszuführen, an hundert Unmöglichkeiten stets wieder scheitern müsse.

Es war damals überhaupt eine eigen tiefsinnige und spintisierende Richtung in der gelehrten Welt! So kam auch Dr. Werneburg aus Jena, dessen in dem Goethe-Zelterschen Briefwechsel mehrfach gedacht wird, um diese Zeit in meinen Bereich. Seine merkwürdigen Berechnungen über die gleichartigen Grundverhältnisse der Farben- und Tonwelt sowie seine Entwürfe über eine höchst sinnreiche und neue Bezeichnung aller Musik- und Farbentöne durch das System einer besondern Bezifferung, welches namentlich die Notenschrift außerordentlich vereinfachen sollte, machte er mir selbst bekannt und klärte dabei ebenfalls über vieles mich auf, obwohl seine Bestrebungen hierbei mir weniger nahekamen als die von Krause, indem sie vom anatomisch-morphologischen Felde doch entschieden allzuweit entfernt lagen.

Ist es doch mit vielen menschlichen Dingen so! Und eben in der Schwierigkeit, ja oft Unmöglichkeit, so manches in unsern Einrichtungen, woran der klare Verstand sehr leicht entschiedene Mangelhaftigkeit und zuweilen selbst eine gewisse Absurdität nachweisen könnte, trotzdem anders zu gestalten und neu einzurichten, bewährt sich dann das Recht der organischen Fortbildung der Menschheit im großen, welche ja eben, wie alles Lebendige, stets neben dem Rationalen ein Maß von Irrationalem fordert, damit[204] sie nur überhaupt ein Wirkliches werde und bleibe. Die Sprache selbst ist offenbar das beste Beispiel hierin! Wie leicht scheint es, alle die unregelmäßigen Beugungen, die anomalen Konjugationen und dergleichen durch einen Machtspruch umzugestalten, und welche endlose Verwirrung und Unschönheit würde daraus hervorgehen, und eben wie unmöglich ist daher ein solches Unternehmen! Es ist jedenfalls lehrreich und empfehlenswert, über diese Dinge nachzudenken und das Mögliche und Unmögliche davon sich recht klarzumachen! Wieviel unglücklich abgelaufene Versuche in Staatsverbesserungen hätten allein bei hellen Ansichten dieser Art sich vermeiden lassen! Allerdings wäre es aber auch wieder eine verkehrte Anwendung solcher Erkenntnis, alles, was einmal historisch sich entwickelt hat, als gänzlich unantastbar und für immer notwendig anzusehen. Auch hierin gibt die Betrachtung der organischen Verhältnisse den besten Maßstab! Selbst in lebendigen Bildungen sehen wir ja, wie gewisse Formen zum Untergange bestimmt sind und durch neue ersetzt werden sollen, dergestalt, daß man sagen darf, es würde durchaus etwas Monströses und Entsetzenerregendes sein, einen Organismus zu betrachten, an welchem gar nichts abgestorben, nichts abgeworfen worden wäre und wo in widerwärtiger Übereinanderhäufung Eischalen und embryonische Formen am Leibe des Erwachsenen sich fortwährend erhalten fänden.

Daß nun alle diese verschiedenartigen Anstrengungen meines Geistes, verbunden mit nicht unbedeutendem körperlichem Kraftaufwand, wie er durch die Direktion eines großen Entbindungsinstituts, einer oft die Nachtzeit mit in Anspruch nehmenden weitläufigen Praxis und durch mehrfache Vorlesungen und Privatunterrichtsstunden über operative Hilfsleistungen bedingt wurde, zuletzt nicht verfehlen konnten, meine Gesundheit etwas anzugreifen,[205] kann man wohl denken. In Wahrheit fing ich damals an, öfters an rheumatischen Anfällen zu leiden, sah übel aus, war zuweilen auch innerlich tief verstimmt, und so stellte es sich mir immer deutlicher heraus, daß, sollte ich nicht erliegen, ich einige Jahre hindurch die Sommerferien würde zu Reisen benutzen müssen, zu Reisen, welche zu neuen größern Naturszenen mich brächten und dadurch geistig und leiblich zu erfrischen, ja zu erneuen imstande wären. Denn so sehr war von jeher meine Seele dem großen göttlichen Naturleben verschwistert, daß ich am besten die Mythe vom Antäos, dem Sohne der Tellus, verstand, als dem sogleich neue Kräfte die Adern durchströmten, sowie er nur irgend den mütterlichen Boden berührte.

Es war infolge meiner geschlossenen Freundschaft mit Friedrich und einer dadurch vielfach geweckten Sehnsucht nach der von ihm in Zeichnungen so schön aufgefaßten Ostsee und der Rügenschen Insel, daß das Meer zum ersten Zielpunkte eines solchen Ausflugs gewählt wurde. Mein alter Freund Dietz aus Leipzig und ein hiesiger Münzbeamter Kummer, welcher früher schon mit Friedrich auf Rügen gewesen war und dem ich selbst des edeln Künstlers Bekanntschaft zunächst zu danken hatte, schlossen sich an mich an, als ich am 5. August 1819 Dresden verließ. Nach Berlin, welches wir jetzt in fünf Stunden erreichen, fuhr man damals drei ganze Tage! Man muß den Nachlebenden wirklich diese antediluvianischen Zustände treulich aufbewahren, da sie jedenfalls von den nächstkommenden Generationen bald gänzlich vergessen sein werden und doch so vieles und Ungeheueres in der Geschichte der Menschheit gerade nur durch diesen Umschwung bedingt ist. Denke ich zum Beispiel jener langsamen Fahrt, wie sie über Sand und Sumpf im kleinen Wagen durch Dörfer und Städte uns dahintrug, wie da[206] die Zeit sich bot, über die schönen Eichenwaldungen um Herzberg, über einzelne malerische Kiefern, über die Störche, im Morgenlicht auf den Bauernhütten stehend, und hunderterlei ähnliche kleine Reisebilder Betrachtungen anzustellen, und vergleiche ich dann damit den brausenden Eilzug der Eisenbahn, der über alle Mittelzustände rasch hinweg mich zugleich mit hundert andern Reisenden einzig auf den Reisezweck hindrängt, so ist der Unterschied in der Wirkung schon an und für sich ganz inkommensurabel; denkt man aber weiter, wie millionenfältig dieser Abstand sich jetzt täglich und stündlich in der Menschheit fühlbar macht und wie überhaupt bald nirgends mehr jene einfachern kontemplativen Zustände vorkommen werden, so ist eine wesentliche Umgestaltung im Denken und Fühlen der Massen wirklich eine ganz unausbleibliche Folge. Praktische Verstandesschärfe, Schnelligkeit der Kombination, Prosa, Luxus und unmittelbarste Genußsucht werden charakteristisch sein für das Neue, eben so wie Gemütlichkeit, beschauliche Sinnesart, Poesie, Anspruchslosigkeit und ein gewisses Genügenlassen für das Alte. Das Thema erlaubte eine sehr weitschichtige Durchführung! Es genüge indessen hier an dieser Andeutung.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 200-207.
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