II.

[23] Laibach, 11. August


Wieder ein Tag abgetan in dieser illyrischen Einöde! Die Hitze verhindert vieles Ausgehen, unser erhabener Kranker schreitet täglich etwas in der Besserung vorwärts, und sein fieberhaft gereizter Zustand nimmt ab. – Ich saß daher den größten Teil des gestrigen Tages über meinen illyrischen Büchern. Vieles über Volkssitten und Volksgebräuche findet sich hier vor, und alles deutet auf einen gewissen rohsinnlichen Charakter dieser Stämme. Ein Beispiel ist auffallend genug, um zu zeigen, in welche ganz materielle Formen sie die erhabensten Vorstellungen zu drängen versuchen. So erzählt Hacquet, daß man, um anzudeuten, es sei die Himmelskönigin Maria die Beherrscherin aller Elemente, bei diesen Slawen zuweilen sich mit Abbildungen geholfen hat, allwo Maria nicht anders erscheint als die vogelfüßigen Sirenen auf manchen altgriechischen Darstellungen, das ist ein Löwenleib (Erde), Adlerflügel und -füße (Luft), ein Fischschwanz (Wasser), und um das Menschenhaupt der Maria mit der Königskrone ein Lichtschein (Feuer). Eine Abbildung dieser Art sieht man im Buche kopiert; gewiß das wunderlichste, am meisten heidnische Marienbild, welches wohl irgend vorgekommen! Endlich hat mich auch noch des F.S. Metelko »Lehrgebäude der slawonischen Sprache[23] im Königreiche Illyrien« (Laibach 1825) beschäftigt. Nebst manchen interessanten Etymologien, die man daraus lernt, ist mir eine Sammlung slawischer Sprichwörter interessant gewesen. Ich schreibe einige davon in ihrer deutschen Übersetzung ab:

»Wen einmal die Schlange beißt, der fürchtet sich vor jedem gewundenen Seile.«

»Sei nicht zu süß, damit dich nicht jemand verschluckt.«

»Die Wahrheit ist ein Tau des Himmels, dem du, um ihn aufzubewahren, ein reines Gefäß bereiten sollst.«

»Die Frauenzimmer sind von langen Haaren und kurzen Gedanken.«

»Die Ewigkeit windet um den bittern Becher des Frommen einen wohlriechenden Kranz der Hoffnung.«

Und so haben mir denn meine literarischen Exkurse doch allerhand Früchte eingetragen!

Beiläufig machte ich übrigens gestern gegen Mittag auch noch einen wirklichen Exkurs in die Stadt, um einiges einzukaufen. Ich hatte meine Betrachtung über die alte hölzerne Brücke, welche über die schmale Laibach zur eigentlichen Stadt führt. Sie ist, wie der Pont-neuf in Paris, hüben und drüben mit kleinen Verkaufsbuden eingefaßt, gleicht aber sonst dem Pont-neuf, wie Laibach Paris gleicht. Am Anfang der Brücke, zur Linken, steht, auch unter einer Art Budendach, eine ungeschickt geschnitzte, halberhabene, buntgemalte Kreuzigung, an welcher die vorübergehenden Weiber unterer Klassen die Füße des Gekreuzigten zu küssen pflegen, während die übrigen meistens nur grüßend vorübergehen. Betrachte ich wieder das Innere der Stadt, so tut sich stets im Stil der Häuser etwas Ungeschicktes und Schwerfälliges hervor, die Gassen sind krumm und schlecht gepflastert, und die Verkaufsläden sehen mindestens dürftiger aus, als es von einer Stadt, welche ein wichtiger Punkt auf der großen Handelsstraße[24] zwischen Wien und Triest ist, erwartet werden sollte.

Um den Brunnen am Markte saßen eine Menge alter illyrischer Weiber, allerhand Gemüse und dergleichen feilhaltend. Ein entschieden anderer Menschenschlag, durch ein lang viereckiges Gesicht mit großem Unterkiefer und breitem Mund ausgezeichnet. Ideale zu den Phorkyaden im »Faust« hätten in diesen alten sonnenverbrannten Gesichtern sich wohl auffinden lassen.

Bei einem ähnlichen Gange, den ich heute machte, begegnete ich übrigens auch einigen sehr hübschen, elegant gekleideten Frauenzimmern, meist von kurzem, üppigem Wuchse. Aber fast allemal neigte das deutsche Gesicht durch etwas stumpfe Formen sich zum slawischen, selten war eine Hinneigung zum italienischen sichtbar. Ziemlich viel italienisch hört man schon sprechen und findet italienische Inschriften, häufiger aber klingt uns das Slawonische um die Ohren.

Die Aussicht vom Burgberge über Stadt und Umgebung könnte man schön nennen, besonders die nördliche Fernsicht nach den majestätischen Steirischen Alpen mit ihrer höchsten Kuppe, dem Sattelberge, und mehr westlich nach dem höchsten Punkte der Krainer Alpen, dem Mont Terglou (Dreikopf), zumal die zart ultramarinblaue Färbung der erstern war prächtig. Dagegen sind die Linienverhältnisse all dieser Umgebungen auch von hier aus gesehen nicht so rein und schön, wie sie einem Bilde sich eignen. Hier noch mannigfaltig über Natur des Bodens und Verlauf der Laibach, wie sie am östlichen Rande dieser Ebene der Save zueilt, belehrt, lernte ich auch noch besser verstehen, wodurch diese Gegend überhaupt einen so eigentümlichen Charakter erhält: So gewahrt man zum Beispiel auf den Feldern überall aufgebaute lange bedachte Gerüste, welche »Harfen« genannt werden und in[25] welchen das geerntete Getreide aufbewahrt wird. Eine solche Vorkehrung erhält nämlich dadurch ihre Bedeutung, daß es nach hiesiger Feldwirtschaft besonders darauf ankommt, das Getreide schnell abzuräumen, um dann den Boden gleich wieder, und namentlich mit Buchweizen, zu besäen. Man schafft also auf diesen Harfen das Getreide immer nur zunächst etwas beiseite und bringt es dann erst im Spätherbst mit aller Bequemlichkeit zur Scheuer.

Was die Burg selbst betrifft, welche als weitläufiger Bau diesen Hügel bedeckt, so war sie sonst der Sitz der Herzoge von Krain, ist aber jetzt – ein Zuchthaus.

Trauriger Anblick! Auf dem weiten Burghofe vorn durch ein hohes eisernes Gitter von dem Wachtlokal abgesondert, wanderten eben in diesem milden Abendlichte die aus ihren Zellen und Arbeitssälen gelassenen, aber immer geschlossenen Gefangenen zu zwei, vier oder sechs auf und ab, damit ihnen die nötige Lüftung und Bewegung zuteil werde! Ich dachte an Fidelio! Aber der schöne Chorus der Gefangenen fehlte freilich sowie ein Fidelio selbst! Ein Blick in die Schlaf- und Arbeitssäle dieser Unglücklichen, welche, wie ich höre, auch hier gewöhnlich schlechter aus dem Zuchthause hervorgehen, als sie hineinkamen, war trübselig genug, trotzdem daß Ordnung, Lüftung, Reinlichkeit nicht zu verkennen war. Selbst das Kirchlein, ausgemalt mit den Wappen aller frühern Gouverneurs, so hier befohlen hatten, als dies noch der Sitz der Regierung war, sollte nicht unbesucht bleiben, dann aber verließen wir diese Kerkermauern und wendeten uns nach dem südlichen Ende des Burgberges, wo noch manche Ruinen älterer Befestigungsmauern und Türme stehen.


Laibach, 12. August


Endlich leuchtet ein Gestirn, welches wieder nach Norden deutet! Die bedeutend fortgeschrittene Besserung des Königs[26] erlaubt daran zu denken, morgen zu reisen, und läßt erwarten, sich etwa den 23. August wieder in Dresden, zu finden.

Der gestrige Vormittag führte mich noch zur Besichtigung des anatomischen Theaters, welches unter der Direktion des Professors Melzer steht oder vielmehr liegt, denn es war das schlechteste, so ich noch gesehen! Und gegen Abend sahen wir dann die große, in der östlichen Vorstadt gelegene, durch eine treffliche englische Dampfmaschine betriebene Zuckerraffinerie. Zwei Raffinerien dieser Art, die andere auf dem Wege nach Wien gelegen, gehören einem Handelshause und fertigen zusammen jährlich ohngefähr 60000 Zentner Zucker aus westindischem Rohzucker. Wir stiegen zuerst zu der Wohnung des Direktors. Eine Tochter desselben empfing uns in einem eleganten Zimmer. In Mähren geboren, voll und kräftig, mit weißer Haut und schwarzem langlockigem Haar, mit nur halbösterreichischem Dialekt, stellte sie eine eigentümliche Nationalität sehr gut dar.

Die Fabrik selbst war in vieler Hinsicht interessant und gab mir zuerst den vollen Begriff, wie von dem Zustande des rohen, halb mehl-, halb sandartigen Materials, welches unappetitlich genug noch mit Knochenkohle vermischt wird, durch Kochung, Filtrierung, Abrauchung und Kristallisierung der Zucker von gröbern bis zu den feinsten Sorten sich vollendet. Die Dampfmaschine war natürlich mit ihren hunderterlei Dampf- und Wasserröhren, welche das hohe Gebäude durchzogen, das eigentlich schlagende Herz dieses ganzen Organismus.

Der heutige Tag verging mir unter mancherlei Vorbereitungen zur Abreise. Früh wanderte ich noch einmal zu Professor Zschubers Hospital, um den Kopf eines hier erschossenen türkischen Räubers anzusehen, welchen jener gute Kollege für mich den Kriminalbehörden durch seine[27] Konnexionen abgedrungen hatte. Er hatte einem echten Bosniaken gehört; dunkelfarbig, glatt geschoren mit einem langen schwarzen Haarbüschel auf dem Wirbel und einem schwarzen Knebelbarte, war er charakteristisch genug; er soll mir, sauber skelettiert, nachgesendet werden und wird eine gute Bereicherung meiner Sammlung abgeben. Übrigens merkt man doch an solchen Zeichen schon sehr, daß man hier der türkischen Grenze ziemlich nahe ist, und das Überstreifen solcher türkischer Räuber mag denn auch an den noch mehr genäherten Orten unbequem genug sein!

Endlich wurde mir auch noch an ebendiesem Abend durch die Gefälligkeit des Apothekers am Ort ein für diese Gegend beziehungsreiches Geschenk zuteil, welches ich als Trophäe dieser Reise mit nach Hause zu bringen gedenke, nämlich ein lebender Proteus anguinus. Schon früher waren zwei dieser Bewohner der geheimnisvollen Gewässer in der Adelsberger und Magdalenengrotte, nach Wien für Professor Czermak bestimmt, uns zur Ansicht gebracht worden, als nun unmittelbar an mich dieses besonders große und muntere Exemplar gelangte. Die nötigen Vorkehrungen, um es im Wagen sicher unterzubringen, waren bald gemacht, und so ist der Komitat, mit welchem wir morgen reisen, abermals um ein Geschöpf größer geworden.


Neumarktel, 13. August abends


Wie schön war von Krainburg hinaus zur Rechten des Wegs die Alpenkette mit den sie umspielenden Wolken! Die Farbe des angelaufenen Silbers mit ultramarinblauen, ins Violett ziehenden Schatten bezeichnet immer das Phänomen am gegenständlichsten! Wenig Schnee sieht man in den Furchen! Überhaupt ist die Gegend sehr bedeutend; fast zu reich zur künstlerischen Nachbildung. Das gewaltige tiefe Tal der Save mit den schönen Eichen an den[28] Abhängen, diese malerischen Dörfer mit hoch und weit verbreiteten Nußbäumen, diese stracken, schlanken Bauernburschen mit hohen Hüten mit breiten, silbernen Schnallen, in roten Westen und blauen Tuchjacken, alles stattlich mit Silberknöpfen besetzt, wie sie heute, sonntags, zu Dutzenden die sehr nationale Staffage des Weges bilden, wohin sie der stäubende Zug unserer Wagen bringt, und hinter alledem die Vorgebirge der Alpen und die Alpen selbst; es gäbe dem Maler einen überreichen Stoff!


Kirschentheuer, 14. August mittags


Der gefürchtete Leubelpaß über diesen hohen Kalkalpenzug liegt hinter uns! Noch einmal habe ich das Maestoso dieser Natur in mich lebendig und mit ruhigem Bewußtsein aufgenommen! Früh war der Himmel noch umwölkt, die Luft abgekühlt, und im Tale hinauf bildete das stürzende, bläulich schäumende, klare Gebirgswasser über den gelbgrauen Kalkfelsen die prächtigsten Effekte. Als es aber dann gegen die schroffern Höhen hinanging, die höchsten grauen Alpenklippen mit einzelnen Schneeresten und den gewaltigen Widerlagen abgestürzter Bergtrümmer hervortraten, als dunkelbläuliche Gewitterwolken zwischen den Klippen hindurch und hervor sich wälzten und einzelne Donnerschläge durch die Berge hallten, während die Höhe des Leubelpasses in klarem Sonnenlicht vor uns lag, da fühlte ich mich zum erstenmal so recht vollkommen von dem Phänomen befriedigt.

Auf der Höhe des Passes, da wo die weite Pforte mit ihren beiden, den Ruhm der Ausführung dieser Straße verkündenden Obelisken die letzte Felsmauer durchbricht, hielten die Wagen, um den Vorspann zurückzusenden. Ich überzählte die Pferde und die Menschen, welche als Fuhrleute oder als mitlaufende Wagenhalter, hie und da auch wohl als nur scheinbar Geschäftige durch unsern Zug in[29] Bewegung gesetzt waren. Es ergaben sich für unsere vier Wagen 26 Pferde und 24 Leute, die Dienerschaft abgerechnet. Lange stand ich in meinem Wagen rückwärts gekehrt und übersah noch einmal dieses großartige Tal mit seinen Vorsprüngen, Felsen, Wäldern und fernen Bergrücken bis gen Laibach hinaus, wie es in duftiger Morgenbeleuchtung unter schwerem Gewölk vor mir sich ausbreitete! Ich nahm wieder einmal Abschied von einem Teile des südlichen Europa, der diesmal unerwartet und unerwünscht sich mir eröffnet, doch aber mit einem glücklichen Resultat und manchen neugewonnenen Anschauungen mich entlassen hatte! Ein kalter Lufthauch wehte uns entgegen, sowie wir in die nördlichen Täler hinabfuhren, bald klangen die Donner stärker, und unter gießendem Regen kamen wir hier an.


Den 15. August


Heute früh noch ein schöner Abschiedsblick auf die Alpen.

Schon gestern, als wir über die Drau fuhren und auf Klagenfurt zukamen, leuchtete der Mont-Owir (bekannt durch seine Bleiminen) als nackter hoher Alpenkegel im Abendlichte, und weiter zurück, zwischen ihm und dem Singerberge, war eine Kette höherer Alpen sichtbar, deren ätherisch gelbliche Lichtkanten mit den ultramarinblauen Schatten wunderschön aussahen. Ich machte in der Dämmerung noch einen Spaziergang durch Klagenfurt, wo wir übernachteten. Die Stadt sieht sich ganz wohlhabig und symmetrisch an, besonders zeichnet sich das Landhaus – ehemals war es ständisch, jetzt, nämlich 1837, wo von Landständen in Österreich nicht mehr die Rede ist, kann man das Wort Landhaus mehr im Sinne von Villa gebrauchen – durch eigentümlich italienischen Stil und zwei mit blankem Blech gedeckte schlanke Türme aus.[30] Nicht weit davon stand eine alte gotische Kirche, und es machte sich romantisch genug im einbrechenden Dunkel, das große Kruzifix zwischen zwei Fenstern derselben durch zwei angezündete Lampen erleuchtet und daneben eine auf Siege über die Ungläubigen deutende Säule mit einer Kugel, über welcher ein Sichelmond und darüber wieder ein Kreuz! – Auch auf dem Markte erregte ein ungeheuerliches Kunstwerk meine Aufmerksamkeit, ein steinerner plumper Lindwurm auf einem Brunnen, davor Herkules mit reitermäßigem Schnurrbart, das Untier, welches früher Wasser gesprudelt haben mag, eben zu erschlagen bereit.

Das Tal, welches wir am heutigen Tage durchstreifen, war mir teilweise von früher bekannt, mit Ausnahme von Friesach, einem alten, sonst stark befestigten Besitztume der Fürstbischöfe von Salzburg. Wir machten hier Mittag in der Posthalterei, welche mitten in die alten Mauern eines Stiftes hineingebaut, sehr zierlich eingerichtet und mit Korridors, Lustgarten und hübschen Zimmern angenehm eingerichtet ist; dabei sahen die verfallenen Türen und Mauern drüben vom Berge so geisterhaft herüber! Die wunderlichsten Geschichten müßten sich hier auffinden oder erfinden lassen! Man servierte uns ein treffliches Diner, und dabei war viel von der sehr schönen Frau des Postmeisters die Rede, welche dem Orte zu nicht geringer Zierde gereiche. Tirolerin von Geburt, stand ihr noch jetzt der hohe grüne Hut über den dunkeln, zu beiden Seiten des Gesichts herabfallenden Locken sehr gut, und schwer ließ man sich überzeugen, daß sie (die freilich mit fünfzehn Jahren geheiratet hatte) sich zweier Söhne von siebzehn und neunzehn Jahren rühmen könne. – »Gute Gesundheit und ein ruhiges Gemüt erhalten den Menschen gar lange frisch«, meinte sie und mag recht haben! Sie setzte sich zu mir; ein ärztlicher Rat, den ich ihr[31] erteilen konnte, wurde dankbar angenommen, und ein treuherziger Handschlag und ein kleiner Blumenstrauß zum Andenken begleiteten den schnellen Abschied!


Den 17. August abends in Steier


Die Fahrt dieses Morgens in das Tal der Enns immer tiefer hinein war ebenfalls interessant genug! Gewaltige Felsen, hohe tannenbewachsene Berge und drüber aufragend schroffe Kalkalpenspitzen! Man konnte dies wohl eher eine Schweiz im Kleinen nennen als wir unsere sächsischen Sandsteine!

Dann auf lauter Schlangenwegen um schroffe Felsenecken dahin! Tief unten die brausende Enns, so daß es fast Schwindel erregte. Schön war es nicht immer, aber durchgängig bedeutend! Von da ging es durch Nacht und Gewitter noch bis hierher, wo wir erst nach 10 Uhr ankamen. Das Gewitter begann auf eigene Weise. Ich fuhr lange noch im offenen Wagen, um es besser zu beobachten. Der Himmel war mit lockern Kumulostratus-Gewölk bedeckt, zwischen welchem fortwährend blendendes Wetterleuchten zuckte. Oft war dies Wetterleuchten fast gerade über mir, doch hörte man durchaus keinen Donner, und ich überzeugte mich diesmal noch deutlicher, daß ein solches Leuchten gewiß vom eigentlichen Blitz unterschieden werden muß, daß es gleichsam ein zuckendes und schnell verschwindendes Nordlicht, ein flammendes, plötzliches, nicht funken-, sondern strahlenartiges Entladen von Elektrizität an sehr hohen Wolken zu nennen ist. Nach und nach schienen die Wolken massiger zu werden und in tiefere Regionen herabzusinken; nun erst erhob sich Sturm, dann ergoß sich Regen, endlich aber kamen dann eigentliche Blitze mit Donner, und die ganze Szenerie gewöhnlichen Gewitters entwickelte sich.

Damit es denn auch nicht an einem Abenteuer fehle, blieb[32] an einer steilen Anhöhe, wo der Regen den Boden schon erweicht hatte, des Königs Wagen stecken, ich hörte das Schmähen der Dienerschaft auf die Postillions, Herr von Minkwitz springt aus dem Wagen, man zündet Fackeln an, die Pferde werden angetrieben, schon will man die andern Pferde ausspannen, um sie dem Wagen des Königs vorzulegen, [doch] der Regen und Sturm verlöscht die Fackeln! Endlich werden die Pferde noch einmal angetrieben, der Wagen folgt, alles kommt ins Gleis, und wir finden uns im erleuchteten Hotel. Die Majestäten sind zu Bett, wir aber gehen halb zwölf Uhr zum Souper, als befänden wir uns auf einem Balle!


Linz, 18. August abends


Früh noch einen Blick auf Steier und die wegen unsers Abzugs an Tür und Fenster versammelten Bewohner des Ortes. Das Südliche tut sich deutlich hervor in der Lust an bunten Malereien der Häuser und Kirchen, in den grünen Jalousien aller Fenster, in den lebhaften Kleiderfarben und an den goldenen helmartigen Hauben der Frauen sowie in den eigentümlichen hübschen pikanten Gesichtern der Mädchen. Die Stadt liegt am hohen Ufer der hier schon mit starken Fahrzeugen befahrenen Enns, und über eine weite, noch hoch liegende und allmählich der Donau sich zusenkenden Fläche kommt man über Enns, einem wenig bedeutendem Ort, nach Linz. Bei Enns ergießt sich der Fluß gleichen Namens in die Donau, und es war mir merkwürdig, somit den ganzen Lebenslauf dieses Flusses von seiner Entstehung über Eisenerz durch die gewaltigen Felstäler bis Steier und dann durch die weite Ebene bis zur Donau verfolgt zu haben. Erkennt man doch in allem Wiederholung desselben Lebensprinzips! Erst der lustig schäumende Gebirgsbach, dann die Schlangenlinien des mutig und schlank durch Felsen sich Bahn brechenden[33] Flusses, welcher später in breiter Allmählichkeit sein Aufhören im großen Strome und zuletzt sein Verschwinden im Meere findet; wer sähe hier nicht das Vorbild zu den Spiralgängen eines in sehr ähnlicher Fortschreitung sich bewegenden Menschenlebens!

Über Tisch war beiläufig auch auf meinen stummen Reisegefährten, den Proteus, die Rede gekommen, und ich konnte somit nicht umhin, denselben nachmittags in einem klaren Wasserbecken zu allgemeiner belehrender Betrachtung vorzuzeigen. Später benutzte ich eine Stunde zu einem Wege durch die Stadt über die Donaubrücken und auf die höhern Wälle, wo man einer ergötzlichen Fernsicht in das Donautal gen Wien und auf die im Süden wolkenhaft sich hinlagernden Alpen von Ischl genießen kann. Abends gewann ich sogar noch Muße, eine halbe Stunde das hiesige Theater zu besuchen, wo ich etwas volkstümlich Komisches zu sehen hoffte, denn das Stück hatte den Nebentitel: »Wie sieht es in Linz aus«; allein ich fand das elendeste Mittelgut, das man sich denken kann, und mußte am Casinoplatze noch schnell mit etwas Eis mich erfrischen, um so schales Zeug schnell zu vergessen!


Schloß Krummau, 19 August abends


Wie wunderbar wechseln die Lebenslagen des Menschen, zumal auf Reisen, und zumal wenn man mit einem Könige reist! Vorgestern im heftigsten Gewitter nach Steier, gestern schöner Mondscheinabend im Gasthof zum Stuck in Linz, nebenbei ein seltenes Nachtwächterlied, als hörte man den Priester die Litanei absingen, heute mittag reiches Diner bei geistlichen Herren in einer Abtei und heute abend hier im fürstlich Schwarzenbergschen Schlosse zu Krummau, prächtig mit Fackelreitern empfangen, und jetzt, nach opulentem Souper im Zimmer mit Gobelintapeten[34] und im rotdamastenen goldbesetzten Himmelbette liegend und schreibend!

Es war diesen Morgen sieben Uhr geworden, ehe die fürstlichen Personen sich trennen konnten und wir, aber diesmal in einer andern Ordnung, von Linz abfuhren. Der Morgen war prächtig, und wir kamen zuerst ein anmutiges reichbelaubtes Tal hinauf, am Schlosse Wildberg, einer Besitzung des Grafen Starhemberg, vorüber und durch Leonfeld über ziemlich gleichgültiges hügeliges Land bei mehr und mehr sich bewölkendem Himmel nach der Abtei Hohenfurt, einem altbegründeten, reichdotierten und schon in Böhmen an der obern Moldau liegenden Zisterzienserkloster.

Wir wurden sehr artig im Hofe empfangen, und was mich betraf, so wurde mir als Abtretezimmer die sogenannte Bildergalerie angewiesen, in welcher jedoch nur eine Menge alter tapetenhafter verstaubter Malereien aufgehangen war, die ich wohl mit mehr Recht zum Feuertode verdammt hätte als geistliche Herren in früherer Zeit die Ketzer! Geschmackvoller bei weitem als diese Bilder war das Diner und waren die Weine, welche bald darauf in Gesellschaft des Herrn Abtes, dem die Königin den Platz neben sich anwies; uns vorgesetzt wurden. Dieser Abt war ein gemütlich freundlicher, wohlbeleibter Herr, und als er mir über Tische erzählte, daß ihnen bei ihrer Abtei die Leitung der philosophischen Studien in Böhmen und die Besetzung der dahin einschlagenden Lehrstühle am Gymnasium zu Budweis und der Universität Prag obliege, so fühlte ich mich freilich zu einigen mephistophelischen Äußerungen über eine so vertretene Philosophie versucht. Gleich nach Tisch entfernte sich die Königin, ich aber setzte mich noch mit dem Herrn Abt zu einer Tasse Kaffee, und als ich dann um Wasser bat und das Wohltätige des Wassertrinkens früh und nach dem Kaffee anpries,[35] meinte der Herr Abt ganz behaglich und vertraulich: »Kann's nit auch ä Bier sein?« Ich bestand aber auf dem Wasser!

Es war über vier Uhr geworden, ehe wir mit den Rossen der geistlichen Herren wieder abfuhren, zuerst die Moldau ein Stück verfolgten (welche eine halbe Stunde oberhalb des Klosters über eine Granitbank einen schönen Wasserfall bilden soll), dann aber auf durchregnetem lehmigem Boden (ein Gewitter hatte sich nämlich während unsers Diners entladen) über Höhen und Tiefen gegen Krummau uns hinwendeten.

Solange nun die Anhöhen nicht zu steil waren, ging alles trefflich, aber am ersten bedeutenden Berge gefiel es den geistlichen wohlbeleibten Rossen, nicht mehr zu ziehen, und der Wagen des Königs blieb stecken. Das Königspaar mußte die Anhöhe zu Fuß hinaufgehen, und nach einer bessern Zusammenspannung kam denn auch der Wagen nach. Allein am zweiten, höhern Berge wiederholte sich die Szene; alles Antreiben, Peitschen und Schmähen der Dienerschaft half nichts, und wir vermochten endlich die Herrschaften, sich in meinen kleinen, mit zwei tüchtigen Bauerpferden bespannten Wagen zu setzen, und ließen sie vorausfahren, während von Minkwitz sie ein Stück begleitete, um nach dem fürstlich Schwarzenbergschen Vorspann zu sehen, der in kurzem eintreffen mußte. Da stand ich nun mit der bejahrten Frau Obristhofmeisterin neben den beiden großen Wagen und den widerspenstigen Rossen in dem tiefen Hohlwege bei niedersinkendem Abend und hatte meine Betrachtungen über das ziemlich Komische der ganzen Situation. Zum Überfluß wurde noch einer von den Leuten des Königs von einem Pferde geschlagen, daß man mit dem Stillen des Blutes zu tun hatte, kurz, die Verwirrung war groß. Glücklicherweise traf ganz zur rechten Zeit der Vorspann ein, wir setzten[36] uns in den Reisewagen des Königs, an welchem nun vier stattliche Pferde vorgelegt waren, ebenso wurde auch der Wagen der Frau Obristhofmeisterin in Gang gebracht, und so kamen wir denn durch das nebelerfüllte felsige Tal der Moldau gegen neun Uhr hier an, wo alles festlich erleuchtet, das Grenadierkorps des Fürsten aufgestellt ist und wir auf das trefflichste aufgenommen sind, obwohl niemand von den fürstlich Schwarzenbergschen Personen hier ist und überhaupt diese herrliche Besitzung nur selten von ihnen besucht wird. Dies Schloß liegt auf einem Felsen über der Moldau und über der daran hingebreiteten Stadt, welche 6–7000 Einwohner fassen soll. Noch spät sah ich hinab von dem an den Speisesaal stoßenden Balkon in das tiefe dunkle Tal und die sternhelle Nacht, welche eben vom aufgehenden Monde erhellt wurde. Dann in mein Zimmer! Und wenn ich mich hier unter den alten Familienporträts und den Gobelins umsehe, so hat mir diese ganze Existenz geradezu etwas Feenhaftes! »In die Traum- und Zaubersphäre sind wir, scheint es, eingegangen!«


Budweis, 20. August mittags


Dieser Morgen auf dem Schlosse zu Krummau gewährte noch manche hübsche Szenerie! Zuerst erzähle ich, wie überrascht ich war, als ich auf meinem Zimmer bei dem herrlichen Morgen am offenen Fenster das Frühstück nahm und, nachdem ich an dem weiten Tale mich ergötzt hatte, nun gerade hinabsah und unten, tief unter meinem Fenster, am grünbewachsenen Burgberge sechs bis acht Damhirsche anmutig weidend erkannte. Brocken zarten Weißbrotes, zum Fenster hinabgeworfen, verfehlten nicht, den zierlichen Geschöpfen zugute zu kommen, so senkrecht stürzt hier der Fels ab. Durch die weiten Säle wanderte ich dann nach dem östlichen Flügel des Schlosses, wo mich die Aussicht von einem andern Balkon auf das lebhafteste[37] bewegte! Man steht auch hier fast senkrecht über der Moldau, welche sich unten an dem Felsen vorbeikrümmt und in einem Halbkreise das Städtchen umschließt, zu beiden Seiten dehnt sich das mächtige Schloß mit hoher kuppelförmig gedeckter Turmwarte aus, unten die Brücke, das mittelalterliche hochgiebelig gebaute Städtchen mit seiner gotischen Kirche und ringsum die felsigen Anhöhen, alles in duftigen breiten Schattenmassen unter der blendend hellen Morgensonne; es war ein reizender Anblick!

Von hier wanderte ich in Begleitung des Direktors der Schwarzenbergschen Besitzungen, eines ältlichen Herrn Kutschera, nach der Bildergalerie des Schlosses, wo in kurzem auch beide Majestäten zu uns stießen.

Eine Menge Familienporträts gaben zu mancherlei Vergleichungen und Anekdoten genügsame Gelegenheit. Eins dieser Porträts in ganzer Figur ist das einer verwitweten Frau von Lichtenstein, geborenen von Rosenberg, welche hier unter dem Namen der »Weißen Frau« bekannt ist. Sie hatte gegen Ende des 15. Jahrhunderts gelebt, war in Dürftigkeit geraten und hatte nichtsdestoweniger die Kinder ihres Bruders mit vieler Liebe und Sorgfalt erzogen, auch durch Kenntnis mancherlei Kräuter und Steine sich um Behandlung von Kranken verdient gemacht. Von ihr geht die Sage, daß sie umgehe und bei Familienereignissen oftmals als warnender Geist erschienen sei. Ihr Bild ist offenbar hier erst Anfang des 17. Jahrhunderts gemalt, und zwar im weißen Kleide mit einem Zauberstabe und innerhalb eines gezogenen Kreises von Charakteren stehend. Ist sie nach irgendeinem vorhandenen Original gemalt, so war sie damals eine anmutige schlanke Frau. Ein anderes merkwürdiges und offenbar älteres Bild, etwa aus Anfang oder Ende des 16. Jahrhunderts, enthält eine ganze Geschichte. In der Mitte hält auf einem Burghofe[38] ein großer Reiterhaufen, darunter stehen ein alter und sechs junge Ritter in goldenen Rüstungen, welche etwas zu verhandeln scheinen. Ferner aber sieht man drum herum sechs kleinere Reiterhaufen mit Wappenfähnlein der Rose nach verschiedenen entfernter oder näher liegenden Burgen fortziehen, und jedes hat wieder einen goldgeharnischten Ritter an der Spitze, so daß man bald sieht, es seien dies dieselben Ritter, die zuerst auf dem mittlern Burghofe versammelt waren, und eine doppelte Handlung werde sonach auf einem und demselben Bilde vorgestellt. Darüber erfuhr man nun folgendes: Ein Ulrich von Rosenberg habe im Anfang des 14. Jahrhunderts die Herrschaft Krummau nebst manchen andern böhmischen Herrschaften besessen und sei Vater von sechs Söhnen gewesen. Im hohen Alter berief er diese Söhne und eröffnete ihnen, wie er seine Besitzungen in sechs gleiche Teile geteilt unter sie zu verteilen die Absicht habe. Einer von ihnen jedoch wäre außer der Ehe erzeugt, und er frage sie jetzt, ob er diesen, der keiner ehelichen Geburt sich erfreue, nennen und ausschließen solle. Jeder nun, befürchtend vielleicht, daß ihn dies Los treffen könne, oder auch wohl aus echter Liebe gegen die andern, erklärte, er wolle keine Kunde davon, und so wurden die sechs Söhne allesamt gleich beteiligt, wie es denn auch jenes alte Bild bezeichnet. Nichtsdestoweniger soll späterhin verraten worden sein, welcher Stamm von Bastardnatur war, und wirklich wurde dieser nach und nach von den übrigen hintangesetzt, allein bei alledem mag seine Dauer besser begründet gewesen sein, denn die Rosenberge, welche noch jetzt in Böhmen leben, sollen eben nur vom letztern Stamme sich herleiten.

Von hier ging es ferner durch lange, auf Bogenstellungen ruhende Galerien hinüber nach dem Schloßgarten. Auch dort alles großartig und reich! Zuerst ein weiter Freiplatz,[39] mit prächtigen Linden umgeben und zur Reitbahn trefflich eingerichtet; dann Orangerieanlagen, von welchen man im verflossenen Jahre allein 2000 Zitronen geerntet hatte, und mitten in demselben eine Kaskade mit viel Bildhauerarbeit und spritzenden Wasserstrahlen, alles im altfranzösischen Geschmack. Der Weg führte dann nach dem Obst- und Küchengarten, und am Ende desselben fanden wir uns unter einem pilzartigen Schirm auf hoher Felswand wieder über der Moldau und erfreuten uns abermals der vollen Übersicht über Schloß und Stadt und Fluß in köstlicher Morgenbeleuchtung.

Endlich blieb nun im Schloß selbst noch einiges zu betrachten; zuvor jedoch gingen die Majestäten heute, sonntags, zur Messe in die geräumige Schloßkapelle, während ich noch die alten Bilder und Gobelins in den Sälen musterte; dann aber führten die unermüdlich gefälligen Beamten uns teils in das geräumige, im altfranzösischen Stil verzierte Schloßtheater, auf welchem manchmal noch jetzt Dilettanten spielen – zu wohltätigen Zwecken (wie sie sagen) –, teils in den großen Ballsaal, an den Wänden mit einer gemalten Maskenversammlung bunt, aber geschickt genug dekoriert, und nun zum Schluß in die Gewehrgalerie, woselbst unter einer Auswahl von Jagdgeräten und Gewehren noch einige im 17. und 18. Jahrhundert den Türken abgenommene, prächtig verzierte Musketen sich befanden. – So war denn endlich alles betrachtet, die Wagen sind aufgefahren, eine Menge Menschen, sonntäglich geputzt, haben sich versammelt, und von den trefflichen fürstlichen Pferden gezogen, rollten wir fast zu schnell aus dem Portal und durch den Hof des Schlosses.

Übrigens rückt nun Dresden in der Vorstellung schon immer näher. Eine Stafette vom Minister von Lindenau, welcher seine morgende Ankunft in Prag ankündigt, traf uns heute unterwegs. Morgen abend werde ich also doch[40] wohl von dem, was mich jetzt bei den Meinigen am meisten beschäftigt, Kunde erhalten!


Auf einer Straße zwischen Prag und Teplitz,

22. August


Sonntags den 20. waren wir noch abends spät nach Tabor gekommen, um daselbst zu übernachten. Von dort brachen wir gestern frühzeitig auf und kamen schon um zwei Uhr nach Prag in den eleganten Gasthof zum Schwarzen Roß, wo kurz zuvor Minister von Lindenau angekommen war und mir zugleich einige beruhigende Zeilen von Dresden übergab. Eilig hatte ich dann zu Corda, dem Kustos des naturhistorischen Teiles vom ständischen Museum, gesendet, um mindestens noch einiges Merkwürdige hier zu sehen.

Das schöne große Gebäude dieses Museums liegt auf dem Hradschin unweit der Kathedrale, und die erste Abteilung desselben, die wir durchwanderten, war die Gemäldegalerie. Sie ist seit 1792 begründet, wird durch das Zusammenhalten reicher Böhmen vermehrt und enthält viele Gemälde, welche noch das Eigentum einzelner Familien sind, aber dort hingegeben wurden, um das Museum zu zieren und von mehrern gesehen zu werden.

Endlich traten wir in das für mich Interessanteste, in das Naturhistorische Museum. Namentlich der großen Tätigkeit von Corda verdankt man hier den schönen Anfang einer zoologischen Sammlung. Ein großer Saal enthält Vögel, Säugetiere, eine Menge Versteinerungen, eine Reihe Skelette und den erst kürzlich angeschafften Gipsabguß des ungeheuern Schädels vom Deinotherium. Namentlich wurde es mir nun alsbald klar, daß nur von der ganz paradoxen Richtung der Schädelwirbelsäule aus alles sonstige Paradoxe und Ungewöhnliche in dieser Bildung sich erklärt. Hat nämlich sonst diese Säule der Wirbelkörper des Kopfes die Neigung, wenn sie von horizontaler[41] Richtung einmal abweicht, sich nach oben konvex und unten konkav zu verhalten, so ist es hier gerade umgekehrt, und die Konvexbiegung geht hier abwärts an der Basis, das Konkave ist an der obern Fläche, und natürlich drehen sich nun sogleich alle Verhältnisse mit um; der Schädel ist oben nicht nur platt, sondern eingedrückt, und die Basis nicht nur hohl, sondern abwärts sich hervordrängend, endlich aber kehrt sich selbst das Verhältnis der Gliedmaße des Kopfes, das ist des Unterkiefers, um, und die Zähne sind nicht nur nicht mehr aufwärts gekrümmt, sondern abwärts und einwärts gebogen. Noch niemand hatte mir bisher von diesem sonderbaren Verhalten auch nur eine Vorstellung gegeben, obwohl in ihm gerade das Merkwürdigste des ganzen Fundes liegt! Natürlich, diese Leute sind ja immer noch weit entfernt, von der organischen Bedeutung des Schädels als Wirbelsäule überhaupt eine lebendige Vorstellung zu haben! Ihre Geistesaugen sind nun einmal für dergleichen geschlossen, und so schalten sie den Sehenden einen Phantasten, ganz wie eine blinde Menschenmenge den mit Leibesaugen Sehenden Phantast nennen würde, wäre er allein der Bevorzugte.

Wir gaben uns dann noch an die Betrachtung der oryktognostischen und geognostischen reichen Sammlung. In Suiten stehen hier die Produkte aller Gebirgszüge Böhmens wohlgeordnet beisammen, und eine Menge Schränke werden außerdem durch die zum Teil von dem würdigen Grafen Kaspar von Sternberg beschriebenen Versteinerungen aus dem Kohlensandstein Böhmens erfüllt. An vielen dieser versteinerten rätselhaften Stämme hatte Corda die Struktur genauer untersucht und zeigte mir die Stücke davon unter der Lupe vor, wo denn der Bau entschieden auf eine Art Sagopalme deutete. Diese Säle sind recht geeignet, den großen Reichtum und die Mannigfaltigkeit der[42] tellurischen Produkte Böhmens, namentlich auch in vulkanischen Bildungen, erkennen zu lassen!

Selbst der Luftkreis hatte das Seine dieser Sammlung beigesteuert, denn es finden sich hier die meteorischen Eisenmassen von Stannern, die mehr erdigen Massen von Lissa und (jedoch nur als Abguß) die größte in Böhmen niedergefallene Eisenmasse dieser Art, der sogenannte verwünschte Burggraf von Ellenbogen. Einige Fragmente dieser drei Massen aus dem Privatschatze des Herrn Corda wurden mir bei dieser Gelegenheit als eine werte Erinnerung an Prag verehrt.

So fuhr ich nun, da es zu dunkeln begann, mit diesem jungen tätigen Manne nach unserm Gasthause zurück, wo derselbe bei einer Tasse Tee mir noch sein neues Werk über Schimmelvegetationen vorlegte und verehrte, dann mich aber auch eine Reihe großer, prächtig gezeichneter und gemalter Tafeln durchsehen ließ, auf welchen er die auf verwesenden Pflanzen, auf Brot und dergleichen vorkommenden Schimmelpflänzchen einzeln unter starken Vergrößerungen, als wären es Pflanzen gewaltiger Größe, mit den feinsten Zergliederungen dargestellt hatte. Hier erst kam zur klaren Anschauung, welche Pracht an Formen und zuweilen selbst an Farben auch in diesen kleinsten vegetabilischen Werken erscheint!

Noch blieb mir nun übrig, mich dem auch von mir so hochverehrten Minister von Lindenau, welcher in der Nacht noch abreiste, zu empfehlen und ihm einige vorläufige Begrüßungen nach Hause mitzugeben. Der König fährt von hier über Weltrus und das Mittelgebirge. Ich im großen sechsspännigen Landauer ganz allein, gefolgt von dem Kammerwagen, fahre die Straße über Schlan, welche der König nicht liebt und auf welcher doch irrtümlich nun einmal die Postpferde bestellt waren.

Diese einsame Fahrt in solchem weiten bequemen Wagen[43] und durch ziemlich gleichgültige Gegenden bei kühlem, etwas windigem Wetter kommt mir übrigens ganz gelegen, um noch einmal diese ganze Reise zu überdenken und die Bemerkungen über den gestrigen Tag einzutragen.

Man durchfährt hinter Laun und vor Bilin ein über eine Stunde im Durchmesser haltendes Ringgebirge, aus dem recht in der Mitte zwei Bergkegel, ein höherer und ein niederer, sich erheben. Das Vulkanische der Bildung (ganz nach Art eines Mondringgebirges) ist nicht zu verkennen, und es erregt zu gar seltsamen Betrachtungen, wenn man nun durch diesen weiten, jetzt nur Felder einschließenden Kreis, in welchem früher in der Urzeit das furchtbarste Walten feuriger Erdlebenprozesse sich betätigte, ja durch diese Ebene, welche später wieder von wütenden Fluten überschwemmt und dadurch mit mächtigen Kieslagern ausgefüllt worden ist, kurz, durch alle diese Phänomene, welche an die erhabensten Vorgänge des tellurischen Lebens mächtig erinnern, nun so ganz prosaisch die ordinäre Poststraße sich hindurchwinden sieht und bedenkt, von wieviel Tausenden diese Straße jährlich überfahren und übergangen wird, welche durchaus keine Ahnung haben von den Dokumenten so großer Erscheinungen, die unter ihren Füßen liegen! Und gehen nicht viele so durch das ganze Leben, ohne von dem Tiefsinn desselben einen irgend deutlichern Begriff zu erlangen?

Auch mir schließt übrigens sich jetzt wieder ein Kreis plötzlich und gleichsam vulkanisch heraufgeschobener Lebensereignisse, und wieder wende ich mich dem ruhiger dahingleitenden gewöhnlichen Lebensgange zu! Möge sich in diesem nun wie bisher ein stilles Fortbilden des Innern tätig bewähren, ja dem ganzen Dasein einst ein reiner und glücklicher Abschluß gegönnt sein![44]

Den 23. morgens fuhren wir bei nebeligem Wetter von Teplitz. Ich sah noch am Wege das bald beendigte eiserne Monument für die bei Kulm gefallenen österreichischen Krieger, und zwar nach etwas trivialer Vorstellung ausgeführt (ein geflügelter Engel hält ein Schild, auf dem die Inschrift sich befindet) – wanderte dann die Nollendorfer Höhe zu Fuß hinan und sah endlich, wie an der sächsischen Grenze, bei aufgestellter Kommunalgarde, Jägerei und Schuljugend, unter einem Ehrenbogen der König festlich empfangen wurde. Auf einer Anhöhe vor Zehista traf ich jetzt auch die Meinigen als liebe Wegelagerer, und nachdem ich mich den hohen Reisegefährten schon früher für diesmal empfohlen hatte, wurde mir noch die Freude, als ich mit den Meinen im eigenen Wagen nun weiterfuhr, kurz vor Dresden meiner ältesten Tochter, für die ich unterdessen so viel gefürchtet hatte, heiter und wohl mit den Ihrigen auf der Chaussee zu begegnen. Dergestalt alle zumal glücklich vereint, zogen wir jetzt in die festlich bekränzte Tür meiner Villa wieder ein, allwo ich denn auch meine Eltern umarmen und bei gemeinsamem Mahle von den mancherlei gehabten Schicksalen auf diesem unerwarteten Ausfluge erzählen konnte.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 23-45.
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