III.

[106] Indem somit von jetzt an diese große Aufgabe, in welcher das, was an tiefern Gedanken meine frühern psychologischen Vorlesungen enthalten hatten, immer konzentrierter und gereinigter sich ordnen sollte, mehr und mehr Hauptziel meines wissenschaftlichen Strebens wurde, trat auch das Bedürfnis nach immer größerer Abklärung der Form der Darstellung sehr entschieden hervor. Öfters wandte ich mich damals wieder zu Lessing, um in diesem reinen Quell mich zu spiegeln, und noch öfter, ja auch mit noch mehr Nachwirkung, teilte ich die schwierigsten Kapitel jener jetzt ziemlich genesenen Freundin, Frau von Luttichau, mit, welcher Tieck schon großen Einfluß auf seine Arbeiten vergönnt hatte. Lessing verglich ich dabei wohl zuweilen einer Palme, die zwar nur wenige, aber darum (wie in »Emilia Galotti« und in »Nathan«) desto mächtigere Blütenbüschel getrieben hatte, während er im[106] übrigen seines kritischen Prophetentums doch mehr bestimmt gewesen sei, den Zeitgenossen die Luft zu reinigen und einer bessern Periode den Weg zu bahnen, obschon uns dies übrigens nicht hindert, mitunter nach einem Trunk Goethe uns zu sehnen.

Nach einer andern Seite hin nahmen zu Anfang dieses Jahres die eben hier ausgestellten großen belgischen Bilder von Bièfve und Gallait, der »Kompromiß der niederländischen Edeln« und die »Abdankung Karls V.«, meine Teilnahme sehr in Anspruch. Wahre Spektakelstücke der Historienmalerei von der Breite und Höhe eines Theatervorhangs! Ich verkannte nicht die enorme Macht der Technik und die Tüchtigkeit der Studien, die hier vorlagen (insbesondere in dem Bilde von Gallait), aber die gesamte Behandlung – von der räumlichen Größe anzufangen – ging mir doch zu sehr ins Ungemessene, als daß ich auf die Länge mich tiefer hätte dafür interessieren können.

Übrigens, als ob es an diesen ungeheuern gemalten Kunstwerken noch nicht genug sein sollte, brachte der warme Winter, der diesmal im Februar schon Krokus und Schneeglocken in meinem Garten hervortrieb, in eben diesem Monat auch noch einige Riesenkonzerte von Berlioz, dessen ungeheuerliche Phantasien mir nun ebenfalls genugsam zu denken gaben. Es war das erstemal, daß ich diesem seltsamen Geiste begegnete. Wunderlich – romantisch – aölsharfenartig – zuweilen auch etwas Karikatur! Das Ganze fast in [E.T.A.] Hoffmanns Manier, aber doch bedeutend! Etwas von dem, was mir lange im Geiste vorgeschwebt hat. Ich sagte, als ich während der Pause zu Frau von Lüttichau in die Loge kam: »Das ist der Schrei der Kreatur nach einer neuen Musik!« Die Franzosen gehen doch überall als Tirailleurs voraus, aber das Ausbauen und Ausbilden muß woanders herkommen; hier[107] wohl dereinst von den Deutschen! Ewas von diesem prophetischen Spruch hat sich unleugbar später in Richard Wagners größern Werken erfüllt, nur daß auch da noch nicht genug abgeklärt ist.


Unter den fremden Erscheinungen, die in der schönen Maienzeit dieses Jahres durch mein Sehfeld zogen, habe ich denn auch noch dreier Frauen zu gedenken, alle drei durch große Schönheit merkwürdig, sodann aber noch einer vierten, einer Fürstin, ebenso durch Schönheit als durch einen edeln, fein- und hochgebildeten Geist ausgezeichnet. Es war dies aber die Großfürstin Helene, geborene württembergische Prinzessin und Gemahlin des Großfürsten Michael, welche in diesem Frühjahr einige Wochen in Dresden lebte, mich zu sich rufen ließ, auch mit ihren Töchtern zu mir kam, um mein Haus und namentlich meine kranioskopische Sammlung in Augenschein zu nehmen, bei welcher ich dann speiste und ihr noch mein Buch über Goethe verehren durfte. Ich wüßte kaum zu sagen, daß ich bisher einer so eigentümlichen Erscheinung in der Welt der Frauen begegnet wäre; und gewiß, noch jetzt leuchtet mir das Bild dieser ihrer damaligen schönen Erscheinung und die Anmut, Lebendigkeit und Feinheit ihrer Rede wie ihres ganzen Wesens in bleibenden Gedanken! War es doch ein merkwürdiger Anblick, sie mit den lieblichen Töchtern mitten unter meinen Schädeln und Skeletten zu sehen! Das Bild des Lebens unter Bildern des Todes! Sollte indes doch auch sie nur wenige Jahre später eine und dann noch eine dieser Töchter an eine solche Schattenwelt verlieren! Meine Sammlung verdankt ihr übrigens noch einige sehr merkwürdige Gipsformen, die sie mir später von Petersburg sendete – es waren die Totenmasken von Puschkin, Peter dem Großen und Karl XII. von Schweden –, und was[108] den Brief über mein Buch betrifft, den ich gleich hier folgen lasse, so beweist er, daß wir auch in der Liebe zu Goethe uns vollkommen begegneten.

Sie schrieb aus Königsberg vom 1. Dezember 1843:

»Sie haben mir es wohl zugetraut, daß ich Ihnen schreiben würde, denn Ihre Gaben1 waren zu sehr nach meinem Sinne, als daß sie mich nicht zu herzlichem Danke auffordern sollten. Und diesen sende ich Ihnen in vollem Maße – haben Sie doch in Ihren Briefen über den Faust und in Ihrer neuesten Schrift über Goethe an die Menschheit selbst appelliert und den Standpunkt überhaupt angewiesen, welchen der Mensch vermöge seiner Natur einnehmen soll.

Die Hinweisung auf die Gebiete des Wissens und Fühlens, welche als Hilfsmittel ihm zur Seite stehen und seine Fortbildung bedingen, waren mir gar liebliche Fingerzeige zur Vermittlung des Gleichgewichts in unserm Sein, sowie mir die Idee der Metamorphose, des Beseitigens und Ausstoßens ergreifender, aber fremdartiger Zustände durch Goethe selbst in ›Dichtung und Wahrheit‹ zur lebendigen Anschauung geworden ist.

Ich beneide Sie um die Begegnung mit dieser großen Persönlichkeit, welcher wohl wenige mit solchem Bewußtsein gegenübergestanden haben mögen. Erfreulich ist es mir, daß Sie uns diese Mitteilungen gegönnt und dadurch eine Erkenntnis gefördert haben, welche die schwere Kunst des Lebens zur Wirklichkeit erhoben hat und gleichmäßige Entwicklung aller Kräfte als gelöste Aufgabe erscheinen läßt.

So leben Sie denn wohl und erhalten Sie meinen letzten Gruß von deutschem Boden als ein Zeichen meiner herzlichen Anerkennung.


Helene, Großfürstin von Rußland.«
[109]

Ich will diesem Briefe gleich anfügen, daß ich schon früher über dasselbe Buch, auch von Goethes vieljährigem Freunde, dem Kanzler Müller, eine sehr anerkennende Zuschrift erhalten hatte, worin er unter anderm sagt: »Sie haben, was noch in keinem frühern größern Werke über den Verewigten geschehen, ihn aus dem Ganzen aufgefaßt und mit ebensoviel Würde und Scharfsinn als Unbefangenheit geschildert.« Dann spricht er seine Freude aus, daß ich das Fragment »Natur« so hoch stelle, denn er (Müller) habe es aufgefunden und gerettet. Er sagt: »Er hatte es rein vergessen und zweifelte anfangs an seiner eigenen Autorschaft um deswillen, ›weil ein junger Mann, der im 32. Jahre dies geschrieben, noch ein viel anderer Kerl hätte werden müssen, als er bis zum 79. geworden‹.« Und so darf ich es nun wohl noch aussprechen, daß Zeugnisse dieser Art für meine Ansichten über Goethe mir freilich stets am wichtigsten geblieben sind, denn wo ein näheres persönliches Verhältnis zu einer feinern geistigen Individualität hinzutritt, wird natürlich auch das Verständnis immer das innigste bleiben. Zwanzig Jahre später habe ich dann eine zweite Betrachtung über Goethe: »Goethe, dessen Bedeutung für diese und die kommende Zeit« (Wien 1863) herausgegeben, welches mir von der Familie Goethes selbst dieselbe Anerkennung gebracht hat.

Am 4. Juli zogen wir wieder nach Pillnitz, und wie schon im März der ungeheuere Kometenschweif, der damals am klaren Abendhimmel leuchtete, unsere Blicke nach atmosphärischen Zuständen lenkte, so tat es diesmal die wunderbare Schönheit des Wetters. Seit Anfang der milden, klaren Tage sind wir in diesem Pillnitz und gehen da fürs ganze Jahr spazieren. Wirklich köstliche Tage und Abende! Der Sonnenschimmer legt sich wie der Schleier der Dichtung über dies anmutige Tal, und oft greife ich[110] zu Pinsel und Palette und suche diesen Farben etwas abzugewinnen. Dabei entwickelt sich manch guter Gedanke über das Seelenleben, dessen erneute Darstellung mich gegenwärtig beschäftigt, und nebenher werden denn auch manche kleinere Arbeiten gefördert. Freilich zuletzt, wenn das Wetter so schön bleibt, werde ich weniger auf dem Papiere zu Hause bringen als andere Jahre. Mög es indes! Wir haben dann desto mehr unmittelbar erkannt und erlebt!

In der Stadt beschäftigte um diese Zeit Moriani wieder das Publikum lebhaft und zog mitunter etwas ab von manchen Vorstellungen, die in den Köpfen der Menge fort und fort arbeiteten. Denn hatten wir nun auch bereits seit einem Dezennium eine Verfassung und war auch im ganzen der Zustand des Landes ein glücklicher, in der Tiefe regten sich doch fortwährend die verschiedenartigsten Parteien, und der Forderungen der demokratischen Partei auf einer Seite und des Widerstandes der aristokratischen auf der andern war kein Ende, so daß unserm überall das Beste wollenden Könige und seinen Räten oft genug das Leben ziemlich sauer gemacht wurde.

Nebenbei gedenke ich übrigens noch, daß Frau von Lüttichau mir um diese Zeit einen Brief von Raumer mitteilte, worin er, offenbar auch infolge all unserer politischen Zerklüftungen, mit Enthusiasmus die neuern nordamerikanischen Zustände pries und von einer Reise dahin sprach. Mir kam bei diesen Lobpreisungen wieder ins Gedächtnis, was ich schon in meinem Buche über Goethe von dem Unterschiede des Charakters des 18. und 19. Jahrhunderts gesagt hatte: »Was hilft mir alle massenhafte Abglättung der modernen Menschheit, wenn fortan darunter die Blüte und der eigentümliche Hauch einer poetischen tiefsinnigen Individualität nicht gedeiht! Wir[111] wollen also immer ganz zufrieden damit sein, daß wir noch aus dem 18. Jahrhundert stammen!«

Was jene innern Umtriebe in unserm Lande betraf, so waren sie auch die Ursache davon, daß ich, ja daß der König und das ganze Land jetzt durch den Abgang von Bernhard von Lindenau einen großen Verlust erlitten. Ich schrieb darüber an Regis: »Schüttelt doch das Leben immer, ehe wir uns dessen versehen, einen Ast nach dem andern vom Baume! Ich war mehrere Tage in einer Verstimmung, in einer gewissen innern Umnachtung, wie ich sie seit dem Tode meiner Tochter nicht gekannt hatte. Sie glauben nicht, welch eigene liebevolle Persönlichkeit mir durch das Fortgehen von Lindenau entrissen ist. Zugleich repräsentierte er in der höchsten Region unserer Regierungsbeamten so ganz im Sinne des Königs jenes Prinzip echter: Humanität und Wissenschaftlichkeit, welches überall, wo es zutage kommt, ja stets so fördernd und wohltuend sich geltend macht. Ich war noch am 26. August abends allein bei ihm (ich war seit langem sein Arzt), wir waren beide bis zu Tränen gerührt, und er schrieb mir noch den Tag darauf: ›Es gibt wohl im Leben unvergeßliche Augenblicke, ich rechne als einen solchen unser Gespräch von gestern abend.‹ Den Tag darauf war er fort.« Ich habe ihn denn auch wirklich nie wiedergesehen – er ging bekanntlich nach Altenburg zurück, stiftete für die Stadt aus seinen Kunst- und Wissenschaftssammlungen ein kleines Museum und starb dort ein Dezennium später. Mehrere interessante Briefe von ihm sind mir jedoch auch noch von Altenburg zugekommen.

Was die Bücher betrifft, deren Studium die Mußestunden dieses Jahres großenteils ausfüllte, so nenne ich zunächst Franz und Hillert, »Hegels Philosophie in wörtlichen Auszügen«, worin das Geistesgewicht dieses scharfsinnigen[112] Mannes doch auf eine sehr gegenständliche Weise hervortritt. Es war mir indes merkwürdig bei einer im ganzen so mächtigen Schärfe der Intelligenz doch auch mitunter noch viel Abstruses wahrzunehmen, wie namentlich alles das, was über den Begriff der Kraft dort gesagt ist. Außerdem wurde Plutarch öfters wieder vorgenommen und ich fand, daß seine Gestalten mir nun erst so recht wirklich aufgingen und daß an ihnen zugleich vieles Kontemplative über Lebenskunst, ja selbst über Naturwissenschaft jetzt wert und bedeutend erschien, was mir früher in diesem Maße nie hatte aufgehen wollen. Zuzeiten kam ich denn auch wohl an die altdeutsche Literatur, und besonders hatte mich einst auf mehrere Wochen der Parzival sehr in Anspruch genommen, indem er mich zu machen Vergleichungen mit dem Nibelungenliede veranlaßte, von denen zum Teil ich es wohl noch jetzt beklagen möchte, daß ich auch gar nichts davon niedergeschrieben und wenigstens mir für spätere Zeiten bewahrt hatte.

Zu den kleinern arbeiten, die neben der still und innerlich mehr und mehr vorrückenden »Psyche« in diesem Jahre entstanden, gehört nun insbesondere auch noch ein einzelnes Heft, welches bei Gelegenheit der im Herbst zu begehenden fünfundzwanzigjährigen Stiftungsfeier der hiesigen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde geschrieben, dort dann öffentlich vorgetragen wurde und vielleicht verdient hätte, immer von Zeit zu Zeit in dem Gedächtnis der Menge wieder aufgefrischt und empfohlen zu werden, da die Zustände, auf welche es sich bezieht, ja leider in der Menschheit immer und immer sich wiederholen. Der Titel dieses Heftchens war nämlich: »Die Kunst krank zu sein.« Bei dem öffentlichen Vortrage und beim Erscheinen der gedruckten Bogen fand das Ganze viel Beifall und wohl hier und da beigetragen, daß ein[113] oder der andere Kranke unvermeidliche Zustände mit mehr Umsicht und richtigerm Verhalten ertrug, womit ich denn zugleich alle auf die kleine Arbeit verwendete Mühe für hinlänglich belohnt erachten will; im ganzen aber wird freilich auch dieser gute Rat wie so viel andere am Unverstande der Menge großenteils wieder fruchtlos vorübergehen und somit zuletzt doch eigentlich ziemlich im Leeren verhallen.

Ein anderes, was ich jetzt auch auszuführen unternahm, was indes erst im nächsten Jahre zum Abschluß gelangte, war das schon früher erwähnte Gedächtnis für Tiecks Leseabende, wie sie uns nun so an zwanzig Jahre hindurch in Dresden erfreut hatten. Kam es mir doch wie eine heilige Pflicht vor, all dies Schöne nicht so rettungslos im Zeitstrome untertauchen zu lassen, sondern mindestens aus treuem Herzen all diesem Hingeschwundenen ein Monument zu setzen! Ich hatte ja in den verflossenen Jahren nicht selten dann, wenn Tieck irgendein großes Werk so recht wie ein beschriebenes Palmenblatt vor uns aufrollte, spätabends lange noch am Schreibtisch gesessen und manche Erinnerungen und manche Betrachtungen darüber aufgeschrieben, für eigene tiefere Fühlung und für künftiges Durchdenken.

Endlich sollte ich aber, noch ehe dies Jahr wieder ablief erfahren, daß zwei Männer aus dem Leben geschieden waren, die mir in früherer Zeit sehr nahegestanden hatten, Dietz und Heinroth; und wenn auch dergleichen, indem gewissermaßen durch viele dazwischengewachsene Jahre die Trennung schon vorbereitet ist und nicht mehr so augenblicklichen Schmerz erregt, so bringt doch alles dergleichen die Flucht der menschlichen Dinge an sich immer besonders lebhaft vor die Seele und betrübt tief in der Stille. Hatte ich doch beiden in jungen Jahren vielfache und nachhaltige Anregungen zu danken gehabt![114]

Sei ihnen die Erde leicht! Dieser Dietz namentlich war ein wohl zu Größerm bestimmter Geist, ein Mann von viel Glut der Phantasie, energischem Wollen und von durchaus innerlichen und in bezug auf alles Äußere ganz anspruchslosem Wesen. Die Kunst hatte ihm nie irgendeine bedeutende Frucht gebracht, sein Leben war unter Armut, Not und Krankheit hingegangen, und doch dachte er, solange ich ihn kannte, groß von dieser Kunst und der Aufgabe des Künstlers und erhielt sich immerfort seine eigene scharfe Weltanschauung! Heinroths Arbeiten sind mehr gekannt, und er hat seine, wenn auch nicht für lange bleibende Stellung in der Literatur sich erworben, aber auch in ihm war die Frischheit des Gemüts dauernd, und ich habe früher schon es ausgesprochen, wie manche Förderung meiner Arbeiten von ihm ausgegangen war. So kann man also wohl denken, daß die trüben Novembertage diesmal viele Erinnerungen wieder anregten und nicht selten ernste, ja wehmütige Stimmungen herbeiführten.

Das nächste Jahr, 1844, ist dadurch mir wohl ein bedeutendes geworden, daß es die große Lebenserfahrung der Reise durch England und Schottland gewährte, denn wenn auch im ganzen der Mensch die rechten Entfaltungen immer am meisten innern Erfahrungen zu danken hat, so bleibt die gegenständliche Anschauung eines neuen Landes und bedeutend entwickelten Volks doch stets für den Geist ein wichtiges Ereignis! – Bevor ich indes hier weiter berichte, muß ich eines kleinen Zwischenaktes gedenken, welcher zunächst bestimmt schien, mich wieder in sehr frühe Zustände zurückzuversetzen. Seit längerer Zeit nämlich hatte in Leipzig ein Literatenverein sich gebildet, mit Laube an der Spitze, welcher nach Männern sich umtat, die durch allgemein interessante, wissenschaftliche Vorträge ihnen materielle Unterstützungsmittel für Hilfsbedürftige[115] unter ihnen selbst gewähren könnten. Auch an mich, ja an mich vorzüglich, waren ihre Wünsche gebracht worden, und ich wurde so dringend eingeladen, ihnen einmal solch einen Vortrag zu geben, daß ich nicht füglich unbedingt ablehnen durfte. Ich entschloß mich also für den Anfang Februar zu einer solchen kleinen Reise, und dies um so mehr, da mir daran lag, einmal meine Gedanken über Kranioskopie auch auf diese Weise auszusprechen und da durch dem wirren und damals wieder durch Gustav Struve viel herumgetragenen Galimathias der Gallschen Phrenologie somit die richtige Deutung und Korrektion zu geben. Ich fuhr den 2. Februar mit meinem Töchterchen Mariane, die von einer Freundin sich dorthin eingeladen fand, nach Leipzig, benutzte den ersten Tag, um mich wieder in diesen alten Lokalitäten zu orientieren, sah alte Freunde, achtete auf die mehr und mehr sich umgestaltende Stadt und widmete auch eine Stunde der Kenntnisnahme von den Einrichtungen des durch rühmlichen Gemeinsinn begründeten Augenheilinstituts. Im Schletterschen Hause störte mich bei vieler Pracht wiederholt das Kleinliche der Aufstellung, doch enthielt es sonst allerdings sehr schöne Sachen: so z.B. einen prächtigen sturmbewegten Wald von Calame, ein reizendes Winterbild von Wickenberg, eine Sklavin von Horace Vernet, ein treffliches Seebild von Achenbach und anderes mehr. Nach einem interessanten Diner bei Freund Crusius wanderte ich dann in der Dämmerung auch noch hinaus an den Mühlgraben zu jenem Hause, wo ich einst das Licht der Welt erblickt hatte. Es war mir eigen zu Sinn, wie ich so als Fremder in den stillen Hofraum sah, hineintrat und die alten Fenster erblickte, hinter denen der Knabe gelernt und gespielt hatte. Was denkt man da nicht alles durch! Doch die Stunden drängten; ich mußte zur Stadt zurück und hielt nun meine Vorlesung[116] im Lokal der Buchhändlerbörse vor einem zahlreichen und aufmerksamen Publikum, empfing den andern Tag den Dank einer Deputation des Literatenvereins und noch manche Freundlichkeiten von ältern Bekannten, fuhr dann hinaus zur dem Direktor der Taubstummenanstalt, Reich, wo ich über die Träume der Tauben mir einige einsammelte (sie träumen, wenn sie irgend unterrichtet wurden, doch hauptsächlich in Worten, und zwar so mehr als in Gesichtsvorstellungen. In ihrem sonstigen Sein ist ihr Talent für Mechanik oft sehr auffallend und können sie gerade hierdurch vielfältig zu brauchbaren Arbeitern erzogen werden), und fand mich endlich – nicht ohne vorher noch einen Blick auf das Winterkleid meines alten Rosentals geworfen zu haben – schon am Abend desselben Tages mit meiner lieben Begleiterin wieder in Dresden.

Im selben Februar erhielten wir, d.h. Francke, von Ammon, ich und Clarus (in Leipzig), nun auch die Ernennung zu Geheimen Medizinalräten und damit eine etwas höhere Stellung in der Rangordnung und eine kleine Verbesserung unserer Gehalte. Ich darf dies als die einzige öffentliche Anerkennung anführen, die mir unter der Regierung Friedrich Augustus II. geworden ist, so sehr Höchstderselbe mir sonst immer ein huldvoller und Vertrauen bezeigender Herr bis zu seinem Ende geblieben ist; auch wurde in allen meinen sonstigen Verhältnissen durch diese Gnadenbezeigung etwas Weiteres nirgends verändert.

Was meinen brieflichen Verkehr mit dem wunderlichen Regis betrifft, so war er um diese Zeit besonders lebhaft, und ich bekam namentlich von ihm, der bereits an die Ausarbeitung seines »Swiftbüchleins« gegangen war, mancherlei über diesen gallsüchtigen und doch so geistvollen Dechanten zu vernehmen. Unter anderm schichte[117] er mir dessen Predigt »über das Schlafen in der Kirche«, und zwar zu großem Ergötzen auch der Meinigen, und ich schrieb damals darüber: »Ich weiß nicht, warum Sie glauben, daß ich solchen Abscheu vor Swift habe! Krank war er freilich – leberkrank – gallicht, macht mir deshalb keinen frischen gesunden Eindruck, aber teils interessiert er mich eben als Kranker, teils schätze und bewundere ich den tiefen, reichen und tüchtigen Geist! So ist denn auch diese Predigt sehr merkwert – aber immer schwebt man zwischen Ironie und Ernst und findet es doch stets charakteristisch, wenn er nachher die besten Betrachtungen an die unbedeutendsten Gegenstände gleichsam bündelweise wegschenkt. Weniger dagegen will mir die von Ihnen auch mitgesendete Schmähschrift auf einen Verstorbenen gelten! Darin ist es namentlich, daß ich jene galligte Gehässigkeit finde, die ich nur als Dornauswuchs einer ursprünglich zu vollem grünem Laubschößling bestimmten Knospe ansehen kann! Es wird allerdings gut sein, wenn Sie uns einst aus viel dergleichen einen Swift Strauß geben! Ich würde ihn betrachten wie jene gerade in dem blütenreichen Neapel beliebten künstlichen Blumen aus Juchtenleder, welche wegen ihres bitterlichen aromatischen Geruchs nicht selten als Geschenke ausgeteilt zu werden pflegen, und zwar nur, weil man dort wirkliche Blüten für zu nervenangreifend hält.«

Merkwürdig war mir ferner in dieser Zeit manche große und neue Erscheinung, welche in den ersten Monaten, dieses Jahres unser Theater uns heranbrachte. Im wesentlichen waren es Nachklänge von Tiecks hiesigem Aufenthalt, die wir früher schon bequem hier hätten erlangen können, wäre nicht seinem Wirken und seinen Vorschlägen jene Atmosphäre, an welcher er sich späterhin durch seine »Vogelscheuche« gerächt hat, überall zuwider gewesen. In Berlin dagegen hatten die unter seiner Leitung[118] einstudierten Werke »Sommernachtstraum« und »Antigone« großen Beifall erlangt, und so kamen sie jetzt, wo der Dichtergeist nicht mehr von den hiesigen Menächmen gefürchtet zu werden brauchte, endlich auch hier zur Aufführung. Insbesondere erfreuten mich die ersten noch sehr sorgfältig behandelten Vorstellungen des »Sommernachtstraum«, wozu Mendelssohn eine Musik gedichtet hatte, die das schöne romantische Gedicht in noch höhere Regionen der Romantik hinaufhob. Weniger konnte ich mich zuerst mit der »Antigone« vereinigen, wo die volle Orchestermusik, der zwanzigstimmige Gesang und überhaupt das ganze bunte Theater mir anfangs zu schroff der Sophokleischen Einheit und Reinheit gegenüberstanden. Späterhin freilich, als ich diese Scheu überwunden hatte, wirkte allerdings das Ganze doch immer sehr mächtig auf mich ein, und ich betrachtete es mit wahrem Dank und als große und neue Lebenserfahrung, auch ein solches, um ein paar Jahrtausende zurückliegendes mächtiges Werk durch neuere Kunst wieder zu reiner Offenbarung gebracht zu sehen!

Zwischen jenen Werken war aber nun auch die »Armida« von Gluck, unter Leitung Von Richard Wagner, durch die Devrient auf unserer Bühne heimisch geworden, und welcher Eindruck mir ebenso von daher kommen mußte, dafür gibt schon ein in der »Mnemosyne« bereits vor Jahren abgedruckter Aufsatz hinlängliches Zeugnis.

Was nun die Reise nach England selbst betrifft, so muß ich sie hier völlig übergehen, da die mannigfachen Lebenserfahrungen, die sie mir gewährt hat, sich sämtlich in den beiden Bänden niedergelegt finden, welche unter dem Titel »England und Schottland« in Berlin im nächstfolgenden Jahre erschienen und bald darauf auch in einer englischen Ausgabe bekanntgeworden sind. – Wieder war es der 9. August, derselbe Tag, der zehn Jahre später unserm[119] König den Tod brachte, an welchem wir in dem mit Fahnen, Ehrenpforten und Blumengewinden feierlich angetanen Dresden einzogen, und auch mir sollte nach soviel Schönem sogleich eine Prüfung bereitet sein, da unmittelbar nach meiner Ankunft unsere geliebte Eugenie an den Masern ernstlich erkrankte. Noch einmal ging indes hier der Todesengel vorüber, freilich nur, um acht Jahre später diese Blüte doch zu brechen; und so erfreute sich denn, wie die Genesung vorrückte, damals das ganze Haus an den vielen und mannigfaltigen von der Reise mitgebrachten Schätzen. Schon der 17. war zum Umzuge nach Pillnitz bestimmt, wohin indes die Meinigen wegen jener Krankheit erst einige Tage später folgten und wo ich nun mehr Muße finden sollte, die tausendfältigen Reminiszenzen der Reise zu sichten und zu ordnen!

Die innere Stimmung war eine eigene, mit welcher ich damals in die einsamen Räume dieses Schlosses wieder einkehrte. Wie gewöhnlich nahm ich an Tafel und Soireen der königlichen Familie (außer bei besondern Einladungen) nicht teil, hatte überhaupt außer den Meinen zumeist nur den Umgang mit unserer verehrten Freundin von Lüttichau, und so lag ich denn am ersten Abend dort wieder im Fenster, sah hinaus in die stille Nacht über die den Sternenschimmer widerspiegelnde Elbe und kühlte mich an dem milden, von der Insel herüberwehenden Lufthauche. Später schrieb ich auf ein Blatt meines Gedenkbuchs:

»Diesmal bin ich einmal anders als sonst hier eingezogen. Ich bin ganz allein hier, und nach dem Durchziehen so ferner Regionen und nach manchen neuen innern Erfahrungen komme ich auch in neuer Stimmung zu diesen Blättern. Wie ich heute abend so hinaussah auf den Strom, der still und unausgesetzt seine Wellen durch Wiesen und Weiden daherbringt fühlte ich mich so eigentümlich[120] ruhig, klar, der Welt im ganzen vermählt und vom einzelnen der Erscheinung so frei und unabhängig. Vergebens suchte ich in meinem Innern nach manchem leidenschaftlichen Zuge, der lange mit Heftigkeit nach einem einzelnen Ziele mich hintrieb, und eine eigene innere Freudigkeit wehte mich an, wenn ich empfand, wie rein in meiner Seele die Gedanken aufgegangen waren, gerade über das, was mit Recht die höchste Lebensaufgabe genannt wird! Welt und Leben hatten mir eine gewisse Durchsichtigkeit erlangt, und eben darum hatte ich das Recht gefühlt, mit beiden auf gewisse Weise abzuschließen und mich mit mir allein zu fühlen. So scheint nun ein neuer Akt dieser Existenz sich vor mir aufzurollen – manche Früchte sollen jetzt an den Strahlen dieser Spätsonne geläutert, manche höhern Geistesblüten erschlossen werden! – Gebe denn ein gütiges Geschick zu all diesem auch das Glück einer verschönten Gegenwart und freudig sich immer erneuernden Tatkraft!«

1

Ich hatte auch die »Briefe über Faust« beigefügt.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 2. Band. Weima 1966, S. 106-121.
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