Cûlikâ-Upanishad.[636] 1

Cûlikâ (von cûlâ, cûḍâ »die Spitze«, in mannigfachem Sinne) ist nach dem Eingangsverse des Kommentars »der spitzige Aufsatz auf einer Säule«. – Die Säule (so dürfen wir dies vielleicht deuten) wäre etwa die Sâ khyaphilosophie, und ihre Spitze der Theismus des Yoga, in welchen unser Autor dieselbe auslaufen lässt. Zunächst steht er auf dem Boden der Sâ khyalehre, doch nicht sowohl derjenigen, die wir aus der Kârikâ und den Sûtra's kennen, sondern einer ältern Form, wie sie z.B. Maitr. 5 (vgl. unsere Einleitung dort, oben S. 328) erscheint, die noch nicht den Purusha der Prakṛiti schroff gegenüberstellt, sondern denselben aus dem Sattvam sich entwickeln lässt. Ähnlich erklärt unser Autor den Purusha als »im Sattvam weilend« (v. 2) und schildert ihn (wenn man unserer Auffassung von v. 3-4 beistimmt) als denjenigen, welcher mit der Prakṛiti die Welt zeugt, dann aber als Knäblein an ihrer Brust trinkt und nur in diesem Zustande beobachtet werden kann (açakyaḥ so 'nyathâ drashṭum). Unter den zahllosen Seelen-Knäblein, welche so die Sinnendinge trinken, ist eine Seele, welche sie als Gott (der îçvara des theistischen Yogasystems) frei geniesst, welcher als die süsse Beere essend von den Snâtaka's und ihren Adhvaryu's beim Opfer angeschaut wird (nach Ṛigv. 1,164,20. 22), in Wahrheit aber völlig tatenlos, udâsîna ist (v. 8). Ihm gelten, ausser dem Opfer der Adhvaryu's, auch alle Çastra's der Bahvṛica's und alle sieben Stoma's der Chandoga's (v. 9), besonders aber feiert ihn Samhitâ und Brâhmaṇam des Atharvaveda als Brahman in den Geheimlehren der Mantra's »unter einer Reihe von Bezeichnungen« (pada-krama-samanvitam, v. 10). Diese Reihe wird dann v. 11-13 vorgeführt; das Brahman erscheint als:


bṛahmacârin Atharvav. 11,5 (Gesch. d. Phil. I, 277-282);

vrâtya, umherschwärmender Asket, Atharvav. 15;

skambha, Stütze, Atharvav. 10,7. 8 (Gesch. d. Phil. I, 310-324);

palita, der »altersgraue«, Atharvav. 9,9.10 (Ṛigv. 1,164; Gesch. d. Phil. I, 105-119);

[637] anaḍvân, Ochse, Atharvav. 4,11 (Gesch. d. Phil. I, 231-233);

rohita, der rote, aufgestiegene (Sonnengott), Atharvav. 13,1. 2. 3 (Gesch. d. Phil. I, 212-230);

ucchishṭa, der Rest, Atharvav. 11,7 (Gesch. d. Phil. I, 305-310);

kâla, die Zeit, Atharvav. 19,53. 54 (Gesch. d. Phil. I, 210-212);

prâṇa, der Lebenshauch, Atharvav. 11,4 (Gesch. d. Phil. I, 301-305);

bhagavân âtmâ, der hehre Âtman, Atharvav. 10,8,44 (Gesch. d. Phil. I, 324);

purusha Atharvav. 19,6 (Ṛigv. 10,90; Gesch. d. Phil. I, 150-158),

Çarva, Bhava, Rudra Atharvav. 11,2;

Îçvara und zugleich Purusha Atharvav. 19,6,4;

Prajâpati Atharvav. 4,2 und öfter (vgl. jedoch Gesch. d. Phil. I, 189-190);

Virâj Atharvav. 8,9. 10;

Pṛiçni (so statt Pârshṇi zu lesen) Atharvav. 2,1 (Gesch. d. Phil. I, 253);

Salilam, Urwasser, Atharvav. 8,9,1.


Ihn wissen die Atharvan's als das Haupt (vielleicht mit Beziehung auf Atharvav. 10,2,26-27. 10,8,9), während manche ihn als sechsundzwanzigsten (den Îçvara des Yoga neben den 25 Prinzipien des Sânkhyam) oder siebenundzwanzigsten (wohl mit Unterscheidung des Cittam von Buddhi, Aha kâra, Manas, wie oben S. 623, Anm). oder als den verehren, welcher die 24 im Avyaktam verborgenen Prinzipien zum Vyaktam macht (v. 14-15). Aber er ist auch einer, zwei, drei, fünf usw., wie v. 15 (mit deutlichem Hinweis auf Chând. 7,26,2) versichert, er ist Ursprung und Untergang der Wesen (v. 16-19). Wer ihn (exoterisch) als Lebensprinzip verkündet, erlangt unerschöpfliche Nahrung für sich und die Väter, wer ihn (esoterisch) erkennt, sei er Brahmane oder nicht, der geht in ihm zur ewigen Ruhe ein (v. 20-21).

Die Upanishad dürfte ihre Stelle haben in der Zeit, wo aus der noch nicht systematisch abgeschlossenen Sâ khyalehre der theistische Yoga sich herausbildete, und würde, wenn diese Auffassung sich bewährt, als Zeugnis jenes Übergangs von besonderm Werte sein.


1. Der Vogel, strahlend, achtfüssig2,

Dreisträhnig3, ewiger Juwel,

Glutflammend, wandernd zwiefältig4, –

Jeder sieht ihn und sieht ihn nicht,5


2. Wenn zur Zeit der Wesenblendung

Zerreisst um Gott die Finsternis,

Dann sieht in Guṇahöhle man,

Im Sattvam, ihn, der guṇalos.
[638]

3. Denn nicht anders zu schaun ist er,

Als wenn er als ein Knäblein saugt6

An der Werdemutter Mâyâ,

Der ew'gen, festen, achtfachen.7


4. Er saugt an ihrer Brust liegend8;

Und wieder wird, erregt, sie breit

Und gebiert für den Purusha,

Von dem vorher sie ward belegt.


5. Mit des Rindes Stimme brüllt9 die

Wesenbildende Zeugerin,

Die schwarze, weisse und rote10,

All wunschmelkend nur für den Herrn.


6. Die Knäblein freilich sind zahllos,

Die da trinken die Sinnenwelt,

Doch einer nur als Gott trinkt sie,

Dem eignen Willen folgend frei.


7. Er durch sein Denken und Wirken

Geniesst zuerst, der heil'ge Gott,

Die allen spendende Milchkuh,

Die verehrt von den Opfrern wird.


8. In ihr das grosse Selbst schauen

Als Vogel, der die Frucht geniesst11,

Obwohl es ewig sitzt müssig,

Opfernd Hausherr und Priesterschaft


9. Ihm, dem sagenden, nachsagen

Ṛig-Sänger, sagenskundige,

Ihm in Rathantaram, Bṛihat,

In allen sieben12 gilt das Lied.
[639]

10. Als Brahman in Geheimlehren

Der Mantra's, in der Worte Reih'

Verkünden ihn die Atharvan's,

Der Bhṛigusöhne oberste,


11. Als Brahmanschüler13, als Schwärmer14

Als Stützer15 und als altersgrau16,

Als Ochsen17, Rest18 und Rohita19

Verkündet ihn das Bhṛiguwerk.


12. Als Zeit20, als Prâṇa21, als Âtman22,

Der erhabne, als Purusha23,

Als Çarva, Bhava und Rudra24,

Als Gott und Purusha25 zugleich,


13. Als Priçni26 und als Urwasser27,

Als Virâj28 und Prajâpati29

In spruchverknüpften Vorschriften30

Atharvan's wird gelobt der Herr.


14. Als sechsundzwanzigsten manche31,

Auch als siebenundzwanzigsten,[640]

Die Atharvan's als Haupt wissen

Der Sâ khya's guṇalosen Geist,


15. Der das Avyaktam als Vyaktam

Vierundzwanzigfach sichtbar macht,

Als zweiheitlos und zweiheitlich,

Als dreifach, fünffach kennt man ihn.32


16. Durch die Erkenntnis als Auge

Sehn Brahmanen von Brahman an

Bis in die Pflanzenwelt abwärts

Sich hindurchziehn den Einen nur.


17. Dem eingewoben dies Weltall33,

Was sich bewegt und nicht bewegt,

In Brahman auch vergeht alles

Wie Schaumblasen im Ozean.


18. In ihm, in dem die Weltwesen

Einmündend, werden unsichtbar,

Vergehn sie und erstehn wieder

Gleich Schaumblasen zur Sichtbarkeit.


19. Dass er als Seele im Leib weilt,

Zeigt aus Gründen der Weise auf,

Und dass als Gott er stets wieder

Die Wohnung wechselt tausendfach.


20. Wer satzungstreu als Brahmane

Dies bei dem Totenmahle lehrt (Kâṭh. 3,17),

Erlangt für sich und die Väter

Speis' und Trank, unvergängliche.


21. Doch wer Brahman und sein Gesetz,

Sei er Brahmane oder nicht,

Erkennt, der schwindet, einmündend

Zu dem in Brahman Ruhenden,

– zu dem in Brahman Ruhenden.34


Fußnoten

1 In der Sammlung der 108 Upanishad's als Mantrika-Up. (32) vorliegend.


2 Die acht Himmelsgegenden bestrahlend.


3 trisûtram, vielleicht weil durch die drei Guṇa's gefesselt.


4 Jeder sieht ihn als Sonnenvogel, und sieht ihn nicht, sofern er der Âtman ist.


5 Jeder sieht ihn als Sonnenvogel, und sieht ihn nicht, sofern er der Âtman ist.


6 Lies dhayamânaḥ.


7 Achtfach ist die Mâyâ (Prakṛiti) vielleicht im Sinne der acht Formen des Çiva, die in der Nândî des Çâkuntalam vorkommen.


8 Wörtlich: »sie (die Prakṛiti) wird, von ihm besetzt, gesogen« (lies dhîyate).


9 Vgl. Ṛigv. 1,164,28 (Atharvav. 9,10,6).


10 Nach Çvet. 4,5; gemeint sind die drei Guṇa's.


11 Ṛigv. 1,164,20 (Gesch. d. Phil. I, 113).


12 Die sieben Stomaformen mögen gemeint sein; Rathantaram und Bṛihat sind freilich Sâman's. (Die Namen der sieben Stoma's s. Ind. Stud. IX, 276).


13 Brahmacârin, Atharvav. 11,5.


14 Vrâtya Atharvav. 15.


15 Skambha 10,7. 8.


16 Palita 9,9. 10.


17 Anaḍvân 4,11.


18 Ucchishṭa 11,7.


19 Rohita 13,1. 2. 3.


20 Kâla 19,53. 54.


21 Prâṇa 11,4.


22 10,8,44; bhagavân fasst die dort stehenden Epitheta zusammen.


23 Purusha 19,6.


24 Çarva (so zu lesen), Bhava, Rudra 11,2.


25 Îçvara, und zugleich purusha 19,6,4; die Punaer Ausgabe liest (Çyâvâsvaḥ (Atharvav. 11,2,18) sa-asuras tathâ; das zweimalige purusha ist allerdings auffallend.


26 Pṛiçni 2,1; pârshṇi ist sinnlos, da wir dem Autor doch nicht wohl zumuten dürfen, dass er etwa an kena pârshṇî etc. 10,2,1 gedacht habe.


27 Salilam 8,9,1.


28 Virâj 8,9 und 10.


29 Prajâpati 2,1 und oft, meist um ihn umzudeuten.


30 Bezieht sich vielleicht auf Brâhmaṇa's (vidhi) des Atharvaveda.


31 Vgl. Gauḍapâda, Mâṇḍûkya-Kârikâ 2,26 (oben, S. 580).


32 Beziehung auf Chând, 7,26,2.


33 Bṛih. 3,6.


34 Wörtlich: »sie gehen auf in Brahman (tatraiva), indem [wie bei den Flüssen Chând. 6,10. Muṇḍ. 3,2,8] ihre Mündungen hinschwinden (lînâsyâḥ) zur Vereinigung mit dem [bereits] im Brahman-Ozean Befindlichen (brahmaçâyine, Dativ des Zweckes)«.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 636-641.
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