Kaivalya-Upanishad.

[737] In vielfacher Abhängigkeit von älteren Gedanken und Worten, aber nicht ohne eigene, innere Erfahrung schildert unsere Upanishad das Kaivalyam, »die Absolutheit«, d.h. den Zustand des Menschen, welcher auf dem Wege der Entsagung (tyâga) frei geworden ist von aller Anhänglichkeit an das Irdische und sich infolgedessen nur noch als das eine, in allem lebende göttliche Wesen weiss und fühlt. Besonders schön ist es, wenn von Vers 18 ab der Belehrte selbst das Wort ergreift, um dem Bewusstsein seiner Einheit mit Gott einen Ausdruck zu geben, welcher dem Okzidentalen übertrieben scheinen kann.

Schwierigkeit macht nur die Schlussstelle in Prosa, welche plötzlich das Studium des Çatarudriyam (Vâj. Samh. 16) empfiehlt und daran allerlei Verheissungen in spätestem Upanishadstile knüpft. Nârâyaṇa schweigt dazu, Ça karânanda's Meinung, dass hier von solchen die Rede sei, welche den höchsten Âtman nicht in der geschilderten Weise zu erfassen vermöchten, ist in keiner Weise durch den Text indiziert. Sollte die Stelle nicht durch einen blossen Zufall an den Schluss der von ihr an Geist und Haltung so sehr verschiedenen Upanishad geraten sein, so liesse sich die Vermutung aufstellen, dass unsere Upanishad ursprünglich einen Nachgesang zum Çatarudriyam bildete, auf welches dann in der Schlussstelle wieder zurückgegriffen würde.


Om!


Es begab sich, dass Âçvalâyana dem heiligen Allerhöchsten nahte und zu ihm sprach:


1. Verkünde mir, o Herr, des höchsten Brahmanwissens

Geh imnis, das die Guten stets verehren,

Durch das die Weisen, schnell befreit vom Bösen,

Zum Geist, der höher als das Höchste1, eingehn.
[738]

2. Da sprach zu ihm der Urvater der Wesen:

»Weil du übst gläubig frommes Sinnen, wisse:

Nicht durch Werk, Kinder, Reichtum, – durch Entsagung

Unsterblichkeit von einzelnen erlangt ward.2


3.3 Jenseits vom Himmel und in Herzens Tiefen,

Was dort erglänzt, darein gehn ein die Büsser;

Die der Vedântalehre Sinn ergriffen,

Entsagungsvoll, die Büsser, reinen Wesens


4.4 In Brahman's Welt zur letzten Endzeit werden

Vom Unzerstörbaren erlöset alle. –

An abgeschiednem Ort in Wonne thronend,

Geläutert, ruhig Hals, Haupt, Körper haltend5,


5. Im letzten Âçrama verharrend, hemmend

Die Sinne, gläubig sich dem Lehrer neigend,

Die reine, staublose Herzlotosblüte

Bedenkend und den Leidlos-Lautern in ihr,


6. Der undenkbar, unoffenbar, unendlich,

Beruhigt, selig, ewig, Brahman's Ursprung,

Den Einen, ohne Anfang, Mitte, Ende,

Den wunderbaren Herrn voll Geist und Wonne,


7. Den höchsten Gott und Herrn, Umâ's Gefährten,

Mit schwarzem Hals, drei Augen, ganz beruhigt, –

Den überdenkend, geht jenseits des Dunkels

Der Weise zum allseh'nden Wesensursprung.


8. Er ist Brahmán, Çiva, Indra,

Unvergänglich, der höchste Fürst,

Er ist Vishṇu und er Prâṇa,

Des Todes Feuer und der Mond.


9. Er ist, was je entstand, alles

Und was entsteht in Ewigkeit,

Den Tod besiegt wer ihn kennt, zur

Erlösung führt kein andrer Weg.
[739]

10. Wer in allem, was ist, sich sieht

Und in sich alles Seiende,

Der geht dadurch, und nicht anders,

Zum Ort des höchsten Brahman ein.


11.6 Sich selbst machend zum Reibholze

Und den Om-Laut zum obern Holz,

Des Wissens Feuer reibt fleissig

Der Weise und verbrennt den Strick.


12. Wenn seine Seele blind ist durch die Mâyâ,

Bewohnt den Leib er und betreibt die Werke,

Durch Weiber, Speise, Trank und viel Genüsse

Erlangt er Sättigung im Stand des Wachens.


13. Und auch im Traume, Lust und Schmerz geniessend,

Schafft eine Welt durch Selbstbetrug die Seele;

Zur Zeit des Tiefschlafs schwindet alle Täuschung,

Umhüllt von Dunkel geht in Lust die Seele.


14. Und wiederum durch frühern Daseins Werke

Geht ein die Seele dann in Traum und Wachen;

Und spielend weilt sie in der Stände Dreiheit,

Bis ihr zuteil wird jenes Reiche, Ganze,

Das Träger, Wonne, teillos zu erkennen,

In dem der Stände Dreiheit kommt zur Ruhe.


15.7 Aus ihm geboren wird Prâṇa,

Das Manas und der Sinne Schar,

Der Äther, Wind, das Licht, Wasser

Und Erde, die alltragende


16. Brahman, die höchste Allseele,

Des Weltalls grosser Ruhepunkt8,

Des Feinen Feinstes9, dies Ew'ge

Du selbst bist es, und es ist du!


17. Im Wachen, Träumen, Tiefschlafen

Was ausgebreitet dir erscheint,[740]

Dies Brahman, wisse, bist selbst du, –

Dann fallen alle Fesseln ab.« –


18. »Was als Genuss, Genussobjekt,

Geniesser die drei Stände kennt,

Davon verschieden, Zuschauer,

Rein geistig, selig stets bin ich!


19. In mir entstand das Weltganze,

In mir nur hat Bestand das All,

In mir vergeht es, dies Brahman,

Das zweitlose, ich bin es selbst!


20. Des Kleinen Kleinstes bin ich, und nicht wen'ger

Bin gross ich, bin das bunte, reiche Weltall,

Der Alte bin ich, bin der Geist, der Gottherr,

Ganz golden bin ich, seliger Erscheinung.


21.10 Ohn' Hand und Fuss bin ich, unendlich mächtig,

Seh' ohne Augen, höre ohne Ohren;

Ich bin der Wissende, und ausser mir ist

Kein andrer Wissender in ew'gen Zeiten


22. Durch alle Veden bin ich zu erkennen,

Vedavollender bin ich, Vedawisser,

Vom Guten frei und Bösen, unvergänglich,

Geburtlos bin ich, ohne Leib und Sinne.


23. Für mich gibt es nicht Erde und nicht Wasser,

Nicht Feuer, nicht den Wind und nicht den Äther.« –


Wer so gefunden hat den höchsten Âtman

Im tiefsten Herzen, ohne Teile, zweitlos,

24. Allschauend, frei von Sein und frei von Nichtsein,

Dem wird zuteil der reine, höchste Âtman.


Wer das Çatarudriyam studiert, der wird durch Feuer gereinigt, durch Wind gereinigt, durch den Âtman gereinigt, der wird gereinigt von Branntweintrinken, gereinigt von Brahmanenmord, gereinigt von Diebstahl des Goldes, gereinigt von[741] Gebotenem und Verbotenem; darum ist er eingegangen zu dem Avimukta [dem nicht erst der Erlösung bedürfenden Paçupati]. Erhaben über die Âçrama's soll man es murmeln allezeit, oder doch einmal [täglich].


Durch dieses wird erlangt Wissen,

Vernichtend das Samsârameer;

Darum, wer also ihn findet,

Erlangt der Absolutheit (kaivalyam) Lohn.


Fußnoten

1 Nach Muṇḍ. 3,2,8.


2 = Mahânâr. 10 v. 21.


3 3ab = Mahânâr. 10 v. 21.


4 3cd 4ab = Muṇḍ. 3,2,6 Mahânâr. 10 v. 22.


5 Vgl. Çvet. 2,8.


6 Vgl. Çvet. 1,14.


7 = Muṇḍ. 2,1,3.


8 Vgl. Mahânâr. 11,7.


9 Vgl. Muṇḍ. 3,1,7.


10 Vgl. Çvet. 3,19.

Quelle:
Sechzig Upanishads des Veda. Darmstadt 1963 [Nachdruck der 3. Aufl. Leipzig 1921], S. 737-742.
Lizenz:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Klein Zaches

Klein Zaches

Nachdem im Reich die Aufklärung eingeführt wurde ist die Poesie verboten und die Feen sind des Landes verwiesen. Darum versteckt sich die Fee Rosabelverde in einem Damenstift. Als sie dem häßlichen, mißgestalteten Bauernkind Zaches über das Haar streicht verleiht sie ihm damit die Eigenschaft, stets für einen hübschen und klugen Menschen gehalten zu werden, dem die Taten, die seine Zeitgenossen in seiner Gegenwart vollbringen, als seine eigenen angerechnet werden.

88 Seiten, 4.20 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon