Krümmungshalbmesser

[3] Krümmungshalbmesser der Eisenbahnlinien und Gleise (radius of curve; rayon de courbure; curvatura).


Allgemeines.


Für die Bogen der Eisenbahnen wendet man im allgemeinen Kreislinien an, nur der Übergang zwischen den Geraden und Bogen wird durch Kurven mit abnehmenden K., die Übergangsbogen (s.d.) vermittelt; man benutzt dazu in der Regel kubische Parabeln. Die Stärke der Krümmung wird in Europa in der Regel durch den K. angegeben, in Nordamerika dagegen meist in Gradmaß, wobei eine gleichbleibende Sehnenlänge von 100 Fuß zu grunde gelegt ist. Zur Vergleichung diene folgende Zusammenstellung:



Krümmung in GradmaßHalbmesser in m
11746
2873
3582
4437
5358
6298
7250
8218
9194
10175

Gekrümmte Gleise haben verschiedene Nachteile. Sie verursachen einen erhöhten Fahrwiderstand, sind kostspielig in der Unterhaltung und erschweren die Übersicht. Bei schnellfahrenden Zügen besteht außerdem die Gefahr der Entgleisung, die mit Abnahme des K. beträchtlich wächst; man muß daher hohe Fahrgeschwindigkeiten in scharfen Krümmungen ermäßigen.

Die Erhöhung des Fahrwiderstandes in gekrümmten Gleisen nimmt mit dem Anwachsen des festen Radstandes und der Spurweite, sowie mit dem Kleinerwerden des K. zu. Die Ergebnisse zahlreicher Versuche haben zur Aufstellung mannigfacher Widerstandsformeln geführt. Hier seien einzelne erwähnt, in denen bedeutet:


wr = Widerstand in kg für 1 t Wagengewicht;

R = Krümmungshalbmesser;

e = Radstand;

s = Spurweite;

μ = Reibungskoeffizient.


1. Formel von v. Röckl:


Krümmungshalbmesser

Sie ist abgeleitet aus Versuchen hauptsächlich mit zweiachsigen Wagen mit 3∙6 bis 4∙4 m Radstand und 7∙2 bis 9 t Eigengewicht, sowie zwei- und dreiachsigen Lokomotiven von 24–38 t Dienstgewicht (Zeitschrift für Baukunde 1880, S. 541). Die Röcklsche Formel wird meist in der Form


Krümmungshalbmesser

oder


Krümmungshalbmesser

zur Berechnung des Widerstandes ganzer Züge benutzt.


2. Formel von Hoffmann (Organ 1885, S. 174 u. 202):

a) für steifachsige Wagen


Krümmungshalbmesser

b) für lenkachsige Wagen


Krümmungshalbmesser

3. Formel von F. Leitzmann und v. Borries (Theoretisches Lehrbuch des Lokomotivbaues, Berlin 1911, S. 270):

Für zweiachsige Fahrzeuge


Krümmungshalbmesser

μ ist bei trockenem, staubigem Wetter = 1/4 zu setzen, dann erhält man bei s = 1∙5 m und e = 4∙0 m


wr = 687/R.


Weitere Angaben, auch über den Kurvenwiderstand von Schmalspurbahnen finden sich[3] u.a. bei C. Mutzner, Die virtuellen Längen der Eisenbahnen. Zürich und Leipzig 1914.


Mit Rücksicht auf die Erhöhung des Fahrwiderstandes in den Bogen wird in den TV. des VDEV. 1909, § 118, empfohlen, für Bahnen, auf deren freien Strecken vielfach die nachbezeichneten Krümmungen vorkommen, den festen Radstand der Wagen nicht größer zu wählen als:


3·9 m beiR = 180 m
4·3 m beiR = 210 m
4·6 m beiR = 250 m u.s.w.,

doch werde die Betriebssicherheit nicht gefährdet, wenn größere feste Radstände angewendet würden, u.zw.:


4·5 m beiR = 180 m
4·9 m beiR = 210 m
5·4 m beiR = 250 m u.s.w.

Ein weiterer Nachteil der Krümmungen ist – wie erwähnt – die starke Abnutzung der Schienen, besonders bei kleinen K. Nach den Beobachtungen auf einer preußischen Nebenbahn war die Liegedauer der Schienen in Krümmungen von 250 m dreimal so groß als in solchen von 180 m Halbmesser. Die Abnutzung wird selbst bei geringer Fahrgeschwindigkeit durch das Anstreifen des führenden Rades hervorgerufen. Bei größerer Geschwindigkeit kommt dazu die Wirkung der Fliehkraft. Man sucht diese Einflüsse durch Vergrößerung der Spurweite, Überhöhung des äußeren Schienenstranges und durch Anbringen von Leitschienen (s.d.) am inneren Schienenstrang herabzumindern, verwendet außerdem auch wohl für Bogen besonders verschleißfeste Schienen. Ein weiteres Mittel zur Verringerung des Widerstandes und der Abnutzung bietet eine zweckmäßige Ausbildung der Lokomotiven und Wagen (Lenkachsen, Drehgestelle, seitliche Verschiebbarkeit der Achsen u.s.w.) sowie Schmieren oder Nässen der Schienen, bzw. Radreifen.

Die Entgleisungsgefahr in scharfen Krümmungen ist in erster Linie auf die Fliehkraft zurückzuführen. Da diese mit dem Quadrat der Geschwindigkeit und im umgekehrten Verhältnis mit dem K. wächst, so ist bei vielen Bahnverwaltungen in Krümmungen eine Verminderung der Fahrgeschwindigkeit vorgeschrieben. Auf den deutschen Hauptbahnen darf beispielsweise in Krümmungen mit einem Halbmesser von 1200 m die Fahrgeschwindigkeit höchstens 115 km/Std. betragen, bei 1000 m Halbmesser 105, bei 800 m dagegen 95. In England ist man weniger vorsichtig; dort pflegen die zurzeit am schnellsten fahrenden Züge in Bogen von 1600 m Halbmesser die Höchstgeschwindigkeit (120 km/Std.) gar nicht, in solchen von 800–1600 m um wenig zu verringern; durch Bogen von 400–800 m Halbmesser fährt man oft noch mit 90 km/Std. hindurch, während z.B. die deutschen Vorschriften bei 400 m Halbmesser nur 75 km Stundengeschwindigkeit zulassen. (J. Frahm, Das englische Eisenbahnwesen. Berlin 1911, S. 44 u. 77.)

Auf allen Bahnlinien mit Schnellzugsverkehr sollte man in den durchgehenden Hauptgleisen nicht nur auf der freien Strecke, sondern auch innerhalb der Bahnhöfe scharfe Krümmungen möglichst vermeiden, also beispielsweise unter günstigen Umständen nicht unter 1300 m, und wo dies nicht möglich, wenigstens nicht unter 700 m herabgehen. Folgen zwei entgegengesetzt gerichtete Krümmungen dicht hintereinander, so entstehen bei schnellfahrenden Zügen starke Stöße. Man sucht daher Gegenkrümmungen überhaupt zu vermeiden, oder wenigstens durch Anwendung großer Halbmesser und langer Zwischengeraden unschädlich zu machen. In den Nebengleisen der Bahnhöfe wendet man dagegen unbedenklich scharfe Krümmungen an, um die Gleisentwicklungen möglichst abzukürzen (s. Absteckungen, Abzweigung, Gegenkrümmungen, Gleisverbindung).


Vorschriften in den einzelnen Ländern.


In Deutschland sind nach der BO. auf Hauptbahnen in durchgehenden Hauptgleisen Krümmungen von weniger als 180 m Halbmesser nicht zulässig. Doch bedarf die Anwendung eines Halbmessers unter 300 m auf freier Strecke der Genehmigung der Landesaufsichtsbehörde und der Zustimmung des Reichseisenbahnamtes. Entgegengesetzte Krümmungen der durchgehenden Hauptgleise sind durch eine Gerade zu verbinden, die zwischen den Endpunkten der Überhöhungsrampen mindestens 30 m lang sein muß. Auch auf Nebenbahnen sollen die Hauptgleise Krümmungen von mindestens 180 m haben, falls Fahrzeuge der Hauptbahnen übergehen sollen; sonst dürfen sie auf 100 m herabgehen. Die Zwischengerade braucht hier nur 10 m lang zu sein. Für die preußisch-hessischen Staatsbahnen sind in der Anweisung für das Entwerfen von Eisenbahnstationen v. J. 1905 ergänzende Bestimmungen gegeben. Darnach sind in allen Gleisen (also auch den Nebengleisen), die von Hauptbahnlokomotiven befahren werden – abgesehen von Weichenkrümmungen – Halbmesser von weniger als 180 m zu vermeiden. In Gleisen, die nicht von Hauptbahnlokomotiven befahren werden, darf der K. bis auf 140 m herabgehen. Werden Gleise nur von Lokomotiven mit einem festen Radstande von nicht mehr als 3 m und Wagen mit einem Radstande von nicht mehr als 4∙5 m befahren, so ist sogar ein Halbmesser bis zu 100 m herab zulässig.

Wegen der starken Abnutzung der Schienen und des großen Bahnwiderstandes in engen Krümmungen soll – wo es irgend wirtschaftlich gerechtfertigt erscheint – bei den preußischen Nebenbahnen auf freier Strecke ein K. unter 250 m vermieden und wo es angängig ist, nicht unter 300 m herabgegangen werden (Zentralbl. d. Bauverw. 1897, S. 312).

Gegenkrümmungen in Schnellzugstrecken sollen auf den preußisch-hessischen Staatsbahnen, soweit irgend möglich, Halbmesser von 3000 m und Zwischengeraden[4] von 50 m erhalten; dagegen schreiben die bayerischen Staatsbahnen Zwischengeraden von tunlichst 200 m vor.

In Österreich richtet man sich in der Regel nach den Vorschriften der TV. des VDEV.; diese stimmen im allgemeinen mit denen der BO. überein. Der kleinste K. wird fallweise in der Konzessionsurkunde festgesetzt. Für Hauptbahnen wird nicht unter 250 m heruntergegangen.

Nach dem belgischen cahier des charges (genehmigt vom 20. Februar 1866), Art. 5, ist als schärfster Bogen ein Halbmesser von 500 m vorgeschrieben, nur bei den Einmündungen in Hauptstationen kann bis 350 m heruntergegangen werden.

In Frankreich wird der kleinste zulässige K. gleichfalls im cahier des charges festgesetzt (vgl. Französische Eisenbahnen).

In Italien sollen im allgemeinen in der Ebene und im Hügelland die Bogen keinen kleineren K. als 1000 m erhalten. Ausnahmsweise kann die Regierung K. von 300 und 250 m, bei Gebirgsbahnen einen solchen von 200 m bewilligen.

In den Niederlanden soll auf Hauptbahnen der kleinste K. auf freier Strecke in der Regel nicht weniger als 1000 m betragen (bei der holländischen Eisenbahngesellschaft beträgt er 300 m).

In der Schweiz besteht nur für die Nebenbahnen eine besondere Verordnung vom 10. März 1906. Nach dieser können bei Normalspurbahnen in den Hauptgleisen K. von 150 m, in den Nebengleisen von 100 m angewendet werden. Bei Meterspurbahnen mit Zugsbetrieb mit mehr als zwei Anhängewagen sind noch Halbmesser von 40 m zulässig. Auf den Bundesbahnen beträgt der kleinste K. in der Regel 280 m, ausnahmsweise 180 m.

In England sind allgemein gültige Vorschriften über K. nicht vorhanden. Die englischen Hauptbahnen sind fast durchweg mit schwachen Krümmungen angelegt, doch kommen in den durchgehenden Hauptgleisen vereinzelt auch scharfe Bogen bis herab zu 200 m Halbmesser vor. In den Nebengleisen findet man dort sehr stark gekrümmte Gleise, insbesondere auf den Güter- und Hafenbahnhöfen; man trifft dort bisweilen Gleiskrümmungen von 30 m Halbmesser an; es ist dies auf den kurzen Radstand der älteren englischen Güterwagen zurückzuführen.

In Rußland sind für Hauptbahnen die »Technischen Bedingungen für das Entwerfen und den Bau von Haupteisenbahnen« (Journal des Ingenieur-Conseils Nr. 129 vom Jahre 1899) maßgebend. Danach ist der kleinste zulässige Halbmesser einer Krümmung im allgemeinen 300 Faden (640 m); in besonderen Fällen kann er auf freier Strecke bis auf 250 Faden (533 m), unmittelbar vor Stationen und anderen Haltepunkten sowie in der Nähe der Mittelpunkte bewohnter Orte und Industriebezirke, wie auch bei Flußübergängen und Hindernisumgehungen bis auf 200 Faden (427 m) verringert werden. Für Nebenbahnen wird der kleinste zulässige K. jedesmal besonders vorgeschrieben.

In den Vereinigten Staaten von Amerika, wo ausschließlich Wagen mit Drehgestellen verkehren, finden sich bedeutend schärfere Krümmungen als in Europa, z.B. auf einer Zweiglinie der Eriebahn Bogen von 97 m Halbmesser. Neuerdings sind die amerikanischen Eisenbahnen bemüht, die scharfen Krümmungen der Hauptgleise zu beseitigen. Bei derartigen Linienverbesserungen gilt häufig ein Halbmesser von 437 m als unterste Grenze. In den Nebengleisen findet man zuweilen Krümmungen bis herab zu 24 m, insbesondere dort, wo nur Güterwagen und zweiachsige Verschiebelokomotiven verkehren. Die gewöhnlichen Zuglokomotiven werden in der Regel so gebaut, daß sie Krümmungen von 80–110 m anstandslos durchfahren können; Personenwagen mit Drehgestellen verlangen mit Rücksicht auf die Drehgestellketten Halbmesser von 88 m. Die Möglichkeit der Anwendung derartig scharfer Krümmungen hat in Amerika mehrfach dazu geführt, Schleifengleise anzuordnen (s. Kehrschleifen).

Literatur: J. A. Droege, Freight terminals and trains. New York 1912. Hb. d. Ing. W. V, 4, 2, S. 478. Leipzig 1914.

Oder.

Quelle:
Röll, Freiherr von: Enzyklopädie des Eisenbahnwesens, Band 7. Berlin, Wien 1915, S. 3-5.
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