Beresina

[223] Beresīna (die), ein durch den Übergang der großen franz. Armee am 26., 27. und 28. Nov. 1812 historisch merkwürdig gewordener Fluß im russ. Gouvernement Minsk, der in der Nähe von Polotzk entspringt, zwischen morastigen Ufern südl. dem Dnepr zufließt, und wo er bei dem Städtchen Borisow die Hauptstraße von Minsk nach Smolensk durchschneidet, gegen 150 Schritte breit ist. Die auf dem Rückzuge von Moskau begriffene franz. Armee war durch Krankheiten, Mangel und eingetretene strenge Kälte in einen traurigen Zustand versetzt worden. Sie zählte zwar noch 70,000 M., allein kaum die Hälfte war bewaffnet, die andere bildete ordnungslose Haufen in Lumpen gehüllter, langbärtiger, bleicher und abenteuerlicher Gestalten, die nur noch Muth und Kraft besaßen, einander die wenigen vorhandenen oder etwa aufgefundenen Lebensmittel streitig zu machen. Von Smolensk aus mußte dieses erschöpfte Heer fortwährend angestrengte Märsche zurücklegen, um die nicht ohne Brücke zu passirende Beresina früher zu überschreiten, als die seine Rückzugslinie bedrohenden russ. Corps des Fürsten Wittgenstein, der mit 30,000 M. vom N. her, und des Admirals Tschitschagoff, der mit 27,000 M. vom S. her nach der Beresina rückte, sich dort vereinigen konnten, wodurch das von der russ. Hauptarmee unter Kutusow, wenn auch nur langsam verfolgte franz. Heer zwischen zwei Feuer gebracht worden wäre. Tschitschagoff war jedoch schon am rechten Ufer der Beresina angelangt, hatte Borisow eingenommen und als ihn Marschall Oudinot am 23. Nov. wieder daraus vertrieb, die Brücke über die Beresina abgetragen. Jetzt galt es, einen günstigen Punkt zum Schlagen von Brücken aufzusuchen, das Material dazu herbeizuschaffen, die Brücken aufzustellen und dies Alles dem jenseit stehenden Feinde möglichst lange zu verbergen. Der Ort zum Übergang wurde fünf Stunden oberhalb Borisow, bei Studienka gefunden, das Holz durch Einreißen der hölzernen Häuser gewonnen, der Feind aber durch Bewegungen bei und unterhalb Borisow über den Ort des beabsichtigten Brückenbaus glücklich getäuscht. Diesen begannen am 25. Nov. Abends, wo Napoleon in Borisow anlangte, 400 Pontonniers, welche mit unerhörter Aufopferung, bei strenger Kälte oft bis an die Schultern in den mit Treibeis angefüllten Fluten der Beresina stehend, eine Brücke für Fußvolk und Reiterei bis den 26. Nachmittags 1 Uhr, und bis 4 Uhr eine zweite für Artillerie und Fuhrwesen zu Stande brachten. Oudinot begann mit seinem Corps sogleich den Übergang auf das rechte Ufer, wohin am Morgen schon 400 M. Infanterie auf Flößen übergesetzt worden waren. Eine dort aufgestellte Abtheilung Russen trieb er gegen Borisow zurück und nahm eine Stellung, um die Brücken von dieser Seite zu sichern, während Marschall Victor die Höhen bei Studienka besetzte, um das sich zeigende Corps Wittgenstein's abzuhalten. Bis zum 27. Nachmittags hatten die Russen den Übergang nicht gestört, dagegen war er durch mehrmals nöthig gewordene Erneuerung der Breterbelegung der Brücke für die Truppen und zweimaliges Brechen der andern, sowie durch den ordnungslosen Andrang der Nachzügler gehindert worden. Am 27. gegen Abend brach die Brücke zum dritten Male und kaum war sie wiederhergestellt, so drängten sich Soldaten und Fuhrwesen vor derselben zu dichten Massen zusammen, durch die sich nur mit großer Mühe und Gefahr für die noch geordneten Corps ein Weg bahnen ließ. Jeder suchte das rechte Ufer zu gewinnen; man drängte sich von den Brücken ins Wasser, Andere versuchten über das schwache Treibeis und schwimmend hinüberzukommen, was jedoch Wenigen glückte. Am 28. früh griffen aber die enttäuschten Russen sowol Oudinot und Ney auf dem rechten, als auch Victor bei Studienka auf dem linken Flußufer an, der Letztere behauptete sich aber mit 4500 M. den ganzen Tag gegen die fünffach überlegene Macht Wittgenstein's, und Tschitschagoff wurde von Oudinot nachdrücklich zurückgeschlagen. Es konnte jedoch nicht verhindert werden, daß der Feind die vollen Brücken wiederholt sehr wirksam beschoß, wo durch die Verwirrung den höchsten Grad erreichte. Erst Abends 9 Uhr ging auch Marschall Victor auf das rechte Ufer der Beresina über, seine Vorposten aber blieben bis den 29. früh am linken Ufer, wo noch ein ungeheurer Troß muthloser Menschen lagerte, die in kraftloser Verzweiflung die Nacht unbenutzt verstreichen ließen. Den Meisten mangelte es an Kraft, über die Leichenhaufen zu klettern, welche den Weg sperrten, und erst als beim Nahen der Russen früh 1/2 9 Uhr Befehl gegeben wurde, die Brücken anzuzünden, stürzten sie sich mit wildem Geheul in die Flammen [223] und in die Fluten, wo die Meisten umkamen. Von 70,000 M. gelangten nur 40,000 über die Beresina und blos ein kleiner Theil gerieth in Gefangenschaft. Den Geretteten ward eilige Flucht nach Wilna nur möglich, weil die Russen drei wichtige Brücken in einem langen Dammwege nicht zerstört hatten, der durch Moräste führte, welche noch nicht so hart gefroren waren, um darüber marschiren zu können.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 223-224.
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