Denken

[527] Denken wird im Allgemeinen jene Thätigkeit der menschlichen Seelenkräfte genannt, vermöge der wir zum Selbstbewußtsein gelangen und uns im Geiste Vorstellungen von [527] etwas machen können, ohne daß die unmittelbare sinnliche Anschauung des betreffenden Gegenstandes dazu nothwendig ist. Es vermag sich z.B. Jemand aus vielen Nachrichten über das Leben in China im Allgemeinen eine Vorstellung oder wie man auch sagt, einen Begriff von dem Leben eines Chinesen zu machen. Die letztere Ausdrucksweise deutet zugleich die Ähnlichkeit des Verfahrens mit dem des Denkens im engern Sinne an, dessen Bestreben hauptsächlich darauf gerichtet ist, von unserm Dasein und von den Weltverhältnissen deutliche Begriffe zu erlangen. Dazu bedarf es jedoch ebenfalls durch Anschauung, Empfindung und Wahrnehmung überhaupt erlangter Vorstellungen, ohne die unsern Gedanken der objective oder erkennbare Gehalt mangeln würde. Für das Denken selbst gibt es keine Grenze, indem man jeden Begriff (s.d.) beliebig wiederholen, mit andern verbinden oder von andern trennen kann, die Art und Weise des Denkens ist aber gewissen, in der ursprünglichen Einrichtung des menschlichen Geistes begründeten Gesetzen unterworfen, deren Erforschung und Darstellung die Hauptaufgabe einer philosophischen Wissenschaft, der Logik oder Denklehre ist, welche folglich das klare und deutliche Bewußtsein der Denkgesetze vermittelt. Was in jedem gegebenen Falle nach einer bestimmten Form gedacht wird, heißt der Denkstoff oder die Denkmaterie, die unerschöpflich ist, weil die Gegenstände des Denkens unermeßlich sind. Denkbar ist aber ein Gegenstand, sobald man in dem Begriffe von ihm nichts Widersprechendes zusammenfaßt. So ist z.B. eine silberne Pflugschar, aber nicht ein silbernes Hufeisen denkbar, indem ein Ding nicht silbern und eisern zugleich sein kann. Inwiefern aber das Denken auf bestimmte Gegenstände gerichtet ist, welche seinen Gehalt bestimmen, wird es ein materiales Denken, auch Erkennen (s.d.) genannt. Unter Denkungsart oder Denkart wird die einzelnen Menschen oder auch einer gegebenen Mehrheit, z.B. einer Familie, einer Sekte, einem Volke eigenthümliche Weise des Denkens über gewisse Gegenstände verstanden, die meist eine Folge von Erziehung, Unterricht, Beispiel, geschichtlichen Zuständen u.s.w. ist und stets einen Hauptzug im Charakter des Einzelnen oder der Mehrheit ausmacht. Man nennt daher auch die Denkungsart einer Nation ihren Nationalgeist, sowie die Übereinstimmung der Ansichten bei der Mehrheit der in einem Zeitalter lebenden Menschen den Geist des Zeitalters oder den Zeitgeist. Da das Denken eine von äußerm Zwange unabhängige Thätigkeit des Menschen ist, so kann die Freiheit der Gedanken oder die Denkfreiheit unmittelbar bei Niemand beschränkt und äußern gesetzlichen Bestimmungen unterworfen werden, woraus sich das Sprüchwort »Gedanken sind zollfrei« von selbst erklärt. Mittelbar kann jedoch auf die Denkfreiheit ein höchst verderblicher und hemmender Einfluß durch ein die möglichste Entwickelung und Selbständigkeit der Geistesthätigkeit beschränkendes Verfahren bei der Erziehung und beim Unterrichte ausgeübt und dadurch die höhere und deshalb des Menschen um so würdigere Ausbildung eines Volkes anhaltend verzögert werden. In demselben Geiste wirken auch die in manchen Ländern in gewissen Fällen der Regierung zu machenden eidlichen Erklärungen über innere Überzeugungen in Glaubenssachen, wo dann Denkfreiheit mit Glaubens-und Gewissensfreiheit gleichbedeutend ist. Anders ist es mit der zuweilen ebenfalls unter Denkfreiheit verstandenen Freiheit der Mittheilung der Gedanken durch Rede und Schrift, indem durch die Mittheilung die Gedanken auf das Gebiet der Außenwelt versetzt werden, wo sie in den Rechten Anderer und der dadurch bedingten Pflichten ihre natürlichen Schranken finden. (S. Preßgesetze.)

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 527-528.
Lizenz:
Faksimiles:
527 | 528
Kategorien: