Erbsünde

[681] Erbsünde (die) war die Folge des Ungehorsams des ersten Menschenpaars und besteht in dem Verluste des göttlichen Ebenbilds und dem an seine Stelle getretenen natürlichen Hange zum Bösen, der durch die Zeugung auch auf alle Nachkommen Adam's fortgeerbt wurde. Als eine der körperlichen und geistigen Natur des Menschen tief mitgetheilte krankhafte Beschaffenheit, wird sie auch Erbkrankheit, Erbseuche genannt, die der fromme Wahn sogar auf die Thier- und Pflanzenwelt ausdehnte. Nur durch den Glauben an das verdienstvolle Leiden und Sterben Christi kann der Christ diesem geistigen Elende entrissen werden, da ohne denselben nach Augustin (s.d.) auch die größte Selbstverleugnung und die erhabenste Tugend nur glänzende Laster sind. Solcher Härte und Strenge halber fand die von diesem Kirchenvater im 5. Jahrh. aufgestellte Lehre in der katholischen Kirche keinen Eingang, da sie sich begnügte, die Erbsünde als eine große Schwächung der geistigen Kräfte des Menschen anzusehen, die ihm nicht gänzlich das Vermögen zum Guten geraubt habe; dagegen wurde sie deshalb von den Reformatoren nachdrücklich erneuert, um dem hiedurch entstandenen Misbrauch der guten Werke zu steuern und dem Streben nach Tugend Ernst und Strenge zu geben. Denn wenn auch der Ursprung der Sünde nicht in dem Einfluß eines bösen Geistes, was ebensowol dem gütigen und gerechten Wesen Gottes als dem freien Wesen des Menschen widerspricht, sondern in dem erwachten Bewußtsein der Freiheit zu suchen ist, so ist doch durch die Macht der Sinnlichkeit der Wille des Menschen im Guten so schwach und unzuverlässig, daß auch die vollkommenste Tugend gegen die Foderungen des Sittengesetzes nur ein mangelhafter Anfang zu nennen ist. Da nun der Mensch bei dem Vermögen der Sündlosigkeit dennoch nicht die Sünde überwindet, aber ebendeshalb zurechnungsfähig ist, so setzten mit Kant (s.d.) neuere Philosophen für diese Beschaffenheit der menschlichen Natur an die Stelle der Erbsünde den Begriff des radicalen Bösen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 681.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: