[334] Sünde umfaßt im weitern Sinne an dem Menschen, als einem zur Gottähnlichkeit oder zur Religion und Tugend bestimmten Wesen, Alles, was dieser Bestimmung zuwider, eine Abweichung von den Gesetzen eines vernünftigen Denkens und pflichtmäßigen Handelns ist, ohne Rücksicht darauf, ob der Mensch die Kenntniß seiner Pflichten hatte und dieselben frei und gewissentlich verletzte oder nicht. Unter den Geschöpfen der Erde ist nur der Mensch der Sünde fähig. weil er allein vermöge der Vernunft die Bestimmung des Guten in sich trägt und vermöge der Freiheit seines Willens die Fähigkeit besitzt, dasselbe bei seinen Handlungen sich zum Ziele zu setzen; im strengern Sinne wird jedoch nur Das Sünde genannt, was als freiwillige und wissentliche Pflichtverletzung gilt, wohin auch die Bedeutung des Wortes Sünde zielt, als Etwas, das gesühnt werden muß und durch Schuld der Strafe unterworfen ist. Da die Pflicht auf der Heiligkeit des Sittengesetzes, als eines göttlichen Gebots, ruht, so wird in der Schrift die Sünde, als demselben zuwiderlaufend, Unrecht, Ungerechtigkeit, Gesetzwidrigkeit, Feindschaft gegen Gott genannt. Nach der jedesmaligen Art und Beschaffenheit der Pflicht wird dann die vorsätzliche Abweichung von derselben verschieden genannt, wenn sie eine vorsätzliche Verletzung des Wohlwollens ist, Unbilligkeit, Lieblosigkeit; eine vorsätzliche Verletzung der Klugheit, Thorheit und Ungeschicklichkeit u.s.w. Nach den klaren Aussprüchen der Schrift und dem hiermit vollkommen übereinstimmenden Zeugnisse der Erfahrung hat der Mensch von der frühesten Kindheit an einen weit stärkern Hang zum Sündigen, als er tugendhaft und gottwohlgefällig zu leben und zu handeln geneigt ist. Diese vom Gebrauche der Freiheit unabhängige Beschaffenheit unsers Wesens nennt man das angeborene geistige und sittliche Verderben oder die Erbsünde (s.d.). Hiervon unterscheidet man die wirklichen Sünden, welche aus einem Gebrauche unserer Kräfte entspringen, der den h. Geboten Gottes zuwider ist. Diese sind entweder Begehungssünden oder Unterlassungssünden. Jene sind Handlungen, die von einem verbietenden Gesetze abweichen; diese hingegen bestehen in einem Betragen, das einem gebietenden Gesetze widerspricht. Sie sind ferner entweder unvorsätzliche Sünden, Sünden der Nachlässigkeit, oder vorsätzliche, Sünden der Bosheit. Jene sind Handlungen, die wegen Unterlassung des schuldigen Fleißes, den man bei Beobachtung des Sittengesetzes hätte anwenden sollen, diesem Gesetze widersprechen. Entspringt die Sünde aus Mangel an Verstandesbildung oder an von dem Menschen zu verlangenden Kenntnissen, so heißt sie Sünde der Unwissenheit. Ist es der Wille und die Gemüthsart des Menschen, was ihn unvermögend macht, den schuldigen Gehorsam gegen das göttliche Gesetz zu beweisen, so entstehen Schwachheits- oder Temperamentssünden. Endlich kann die Unterlassung des nöthigen Fleißes bei der Beobachtung des göttlichen Gesetzes ihren Grund im Verstand und Willen zugleich haben, wenn man sich nämlich nicht Zeit genug zum Überlegen nimmt und mit allzu großer Eilfertigkeit handelt, und so entstehen Übereilungssünden. Die vorsätzlichen oder Bosheitssünden sind solche, wo man die nöthige Achtung gegen das Gesetz bei Erfüllung seiner Obliegenheiten mit völligem Bewußtsein vernachlässigt. Die Unsittlichkeit der vorsätzlichen Sünden kann mancherlei Grade haben, je nachdem [334] die Deutlichkeit des Bewußtseins, und die Stärke des Entschlusses, aus welchem sie entsprangen, groß waren. Diese Grade pflegt man mit den Ausdrücken Vergehung, Verbrechen, Missethat, Frevelthat anzuzeigen. Jede Sünde ist vor Gottes Gericht strafbar und verdammlich. Die Größe der Verdammlichkeit ist jedoch bei den einzelnen Sünden nicht gleich groß, indem sie durch die Umstände, unter denen die Sünde geschah, theils geändert, theils erhöht werden kann. Diese Umstände sind so mannichfaltig und fallen zum Theil so tief in die Innerlichkeit des Menschen hinein, daß der Grad der Verdammlichkeit einer Sünde von Menschen niemals bestimmt und ermittelt werden kann, sondern die gerechte Zurechnung nach der Wahrheit allein von Gott geschieht. Es darf darum die Zurechnung vor weltlichen Gerichten nicht mit der Zurechnung vor dem Gerichte Gottes verwirrt werden. Jene bezieht sich blos auf vorhandene bürgerliche Gesetze, die ihren Grund in dem äußerlichen Wohle der Gesellschaft haben; diese hingegen auf alle Vorschriften, von welchen das ewige sittliche Gute des Menschen abhängt. Vieles wird vor weltlichen Gerichten entweder gar nicht, oder doch nur als eine leichte Vergehung zugerechnet, was nach den Vorschriften des Christenthums und vor dem Gerichte Gottes ein schweres Verbrechen ist. Zum Laster steigert sich die Sünde, wenn sie oft wiederholt und dem Menschen eine Gewohnheit und Fertigkeit wird. Lasterhaft heißt Derjenige, bei dem ein regelmäßiges und fortgesetztes Pflichtverkennen vorkommt, was die Schrift mit dem Ausdruck »von der Sünde beherrscht werden« bezeichnet. Das Laster oder die Lasterhaftigkeit ist mithin die herrschende Neigung und Gewohnheit, dem göttlichen Gesetze entgegenzuhandeln.
Äußerst schwierig ist die Frage, wie die Sünde in der Seele des Menschen ihr Entstehen finde. Aussprüche der Schrift und Untersuchungen der Philosophen hierüber weisen auf einen finstern Grund des Bösen in dem Menschen, noch anders hat man sie von einer äußern Ursache, dem überweltlichen Einflusse des Teufels und böser Geister, abhängig gemacht; doch ist es unleugbar, daß der Mensch, wie sehr auch er durch sich selbst zur Sünde versucht sei, dennoch das Vermögen besitze, der Sünde Widerstand zu leisten, daß sie mithin, wie die Tugend, eine Thatsache der Freiheit ist, wie sehr auch beide wiederum durch Zeit und Umstände, unter denen der Mensch lebt und wirkt, durch die Erziehung, die er in der Jugend erhielt, durch den Umgang und das Beispiel, das ihm zur Seite steht, in ihrem Fortschreiten gehindert oder befördert werden. Erklärt aber wird die Sünde zum Theil durch die Natur des Menschen, als eines sinnlichen und geistig-vernünftigen Wesens. Indem nämlich die Neigungen und Triebe der Sinnlichkeit zu stark Das verfolgen, was dem Menschen von irgend einer Seite seiner sinnlichen Natur als angenehm und wünschenswerth erscheint, bildet sich ein Widerspruch gegen die Vernunft und den Willen Gottes, und der zwischen beiden innestehende Verstand wird, wenn die Gründe des letztern nicht stark genug wirken, ein bestochener Richter, der sich zu Gunsten der Sinnlichkeit entscheidet. Wie nun die Tugend den Menschen zur Glückseligkeit führt, so ist die Sünde für ihn die Quelle des Elends und Verderbens. Furchtbar sind die Folgen der Sünde und schrecklich muß sie ihre Schuld bezahlen in den Qualen des Gewissens, in der Furcht des unentdeckten Verbrechens vor zeitlichen und ewigen Strafen, an den Opfern der Wollust, an von Geiz, Neid und Selbstsucht beherrschten Seelen, an Menschen, deren Sünde Schande und Verachtung zur Folge hat, die aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgestoßen werden, oder zum warnenden Beispiel für Andere auf dem Richtplatz enden. Die Sünde ist der Leute Verderben. Aber nichts soll den Menschen mehr von der Sünde abhalten, als die Heiligkeit des Willens Gottes, der ihn zur Tugend bestimmt und im Christenthum ihm hierzu die wirksamsten Unterstützungsmittel gegeben hat, damit die sittliche Ordnung das Leben umschließe, und diese der Grund und Boden seines Wachsthums und Gedeihens sei.