[709] Widerruf (lat. Revocatio, daher revociren so viel wiederrufen), die Zurücknahme von etwas früher Gesagtem oder Behauptetem, kann in Ehrensachen und wegen beleidigender, unwahrer Aussagen erzwungen werden. (S. Beleidigung.) Wo es dagegen sich um Angelegenheiten des Glaubens, Meinens und Wissens handelt, ist es gleich unvernünftig und widerrechtlich, Jemand anders als durch überwiegende Gründe zum Widerruf (durch Widerlegung) bewegen zu wollen. Zudem beweist in solchen Dingen ein gewaltsam bewirkter Widerruf durchaus nichts gegen die widerrufene Behauptung, sondern gibt eher einen Beleg dafür, daß die Widerlegung durch Gründe nicht möglich oder mindestens zweifelhaft sei. So zwang der Papst den berühmten Galilei (s.d.), die Lehre zu widerrufen, daß sich die Erde um die Sonne bewege, und die Wahrheit derselben hat dadurch gewiß nichts verloren. Wenn in gerichtlichen Untersuchungssachen ein Zeuge seine abgegebene Aussage zurücknimmt, ohne daß ihm scheinbar ein besserer Grund zur Seite steht, als die beabsichtigte Verheimlichung der Wahrheit, so macht er sich dadurch verdächtig und kann, ist der Zeugeneid schon geleistet, auch zur Strafe gezogen werden. Die Widerrufung von Geständnissen Beklagter erlangt nur durch Unterstützung mit geeigneten Gründen Geltung. Erfolgt sie nach geschehener Verurtheilung, so hat sie blos dann Wirkung, wenn das Urtheil auf das Geständniß begründet war und muß in Hinsicht ihrer Begründung geprüft werden. Es folgt darauf die Abfassung eines neuen Erkenntnisses, dem bei eingetretener Übereinstimmung mit dem ersten die Clausel angehängt wird, daß kein Widerruf weiter zu beachten sei. Bei Rechtsgeschäften ist einseitiger Widerruf gewöhnlich nur dann zulässig, wenn aus der frühern, dadurch aufzuhebenden Erklärung noch Niemand ein Recht erlangt hat. Daher kann der Widerruf eines Privilegiums, einer Concession, ward er bei der Ertheilung nicht vorbehalten, nur aus überwiegenden Gründen des gemeinen Besten und selbst dann blos gegen Entschädigung geschehen, wenn vom Erwerber eine Leistung übernommen wurde. Freiwillig eine gethane und später als unrichtig erkannte Aussage oder Behauptung zu widerrufen, ist zwar Pflicht; doch erhält auch ein solcher Widerruf, handelt es sich nicht um Thatsachen, blos durch Beifügung der bestimmenden Gründe seinen vollen Werth.