Anadyomene (Mythologie)

[198] Anadyomene (Mythologie). Ein von Dichtern alter und neuerer Zeit sehr häufig gebrauchter Beiname der Venus, der die mythische Entstehung der Liebesgöttin, die aus dem Schaum des Meeres hervorstieg, andeutet. Als solche wird Venus nackt gebildet, auf einer Muschel über Meereswellen stehend, mit einer Hand das feuchte Haar zurück streichend, die andere entweder nach dem Land ausgestreckt haltend, oder mit ihr züchtig den Busen bedeckend. Es war ein hochpoetische Idee, der dieses Bild entsprang, die Göttin der Liebe, die Mutter alles Lebens aus dem Schaum des Meeres an's Licht treten zu lassen; hob sich doch der Erdball selbst aus dem feuchten Wellenschoß, aus dem umwogenden Chaos herauf, und noch heute zeugen untergegangene Welten von der kosmischen Urkraft, die sich in tausend und aber tausend wunderbaren Schöpfungen gefiel, die vielleicht auch das erste Menschenpaar in diesem Element bildete und an das neugeborne Land warf; denn ehe es Land und Menschen gab, wimmelte schon von Myriaden lebendiger Wesen der ewige Ocean. Immer noch rauschen des Meeres Wogen geheimnißvoll, immer noch wirft das Meer den schwarzen wunderbaren Schaum aus, der von organischen Wesen wimmelt, daher ließ eine tiefdurchdachte philosophische Mythe die Mutter der Liebe, deren Hauch und Ausstrahl das junge Weltall beseelen und bevölkern mußte, als holde Uranide, als Tochter der Zeit, als Enkelin des Himmels aus dem Ocean auftauchen. So schwimmt auch in indischen Mythen die Liebesmutter Maja[198] auf dem Lotosblatt oder der Lotosblume, dem Symbol der Befruchtung der Schöpfung aus den Wassern, über schweigenden Meereswellen hin. In gleicher Bedeutung heißt Venus auch Aphrodite und Aphrogeneia, die Schaumgeborne, Schaumentstiegne. :

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Damen Conversations Lexikon, Band 1. Leipzig 1834, S. 198-199.
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