[64] Fanatismus. Die Anschauungskraft des Menschen ist eigentlich nur auf die Körperwelt beschränkt. Zeit und Raum sind für diese beengende Grenzen. Aber der aufstrebende Geist mag in der Regel diese Grenzen nicht beachten. Um den Schlüssel zu dem Räthsel des Lebens zu finden, schweift er mit seinen Gedanken in[64] kühnem Fluge zu dem Uebersinnlichen empor, und sucht hier die Zwecke seines Daseyns und den geheimnißvollen Gang seiner Schicksale zu ergründen. Allein seine Schritte sind auf solchem Boden unsicher und schwankend, des Gemüthes Ahnen und des Herzens Hoffen täuscht uns leicht, und führt uns auf Abwege und Irrgänge, wo wir der Einbildungskraft Truggebilde oft für Wahrheit halten. So entsteht im menschlichen Gemüthe der religiöse Fanatismus, oder der Glaube, mit der übersinlichen Welt, mit Geistern und Engeln, ja mit der Gottheit selbst in einem engeren Verkehr zu stehen, von ihnen Offenbarungen, Lehren und Befehle zu erhalten. Fanatiker oder Schwärmer dieser Art hat es zu allen Zeiten, unter allen Völkern und bei allen Religionen gegeben. Bald traten diese in einem Zustande überspannten Gefühles aufgefaßten Anschauungen sanft und mild, und daher anziehend und ergreifend, bald aber mit Unduldsamkeit und Verfolgungssucht hervor. Daher braucht man auch den Ausdruck Fanatismus und Schwärmer von solchen Menschen, welche eine einmal vorgefaßte Idee lebhaft und stürmisch äußern, und jedes Mittel versuchen und ergreifen, dieselbe zu verwirklichen.
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