Mittelalter

[240] Mittelalter. Verbraucht und mangelhaft ist das alte Gleichniß vom goldenen und ehernen Zeitalter; denn die Menschheit ist nicht todt und starr wie Metall, sie erscheint wie ein durch innere Triebkraft sich fortbildender Organismus, der die Entwickelung von der thierischen Materie bis zu der höchsten geistigen Potenz zum Ziele hat. Man möchte eher den Charakter der verschiedenen Zeitalter, welche die Völker durchlaufen haben, mit den Lebensaltern des Menschen vergleichen. Da erblicken wir in der Geschichte jedes Volkes die Idylle der Kindheit, die Kraftentwickelung des Jünglings, die Reise des männl. Alters, und bei denen, deren Lebensuhr schon abgelaufen, die Hinfälligkeit des Greises. Für das Mittelalter paßt das Gleichniß von der Entwickelungsperiode des Jünglings. Da ist dieselbe rohe Kraft, die das Gesetz mehr in der Faust trägt, als in der Brust, da stammen noch Leidenschaften ungezügelt, da erwacht der Durst nach Wissen, der Bildungstrieb, das maßlose Streben nach Außen, das Aneinanderschmiegen romant. Verbrüderung, poetische Liebe, die Begeisterung für Ehre, Minne, [240] Religion. – Das Alterthum war am Ende der röm. Weltherrschaft in Ueppigkeit und Schwäche versunken; durch die Söhne des Nordens verjüngten sich die Völker (s. Völkerwanderung), alle Verhältnisse gestalteten sich neu. Durch die Thatkraft bildete sich die Selbstständigkeit, es gab bald nur Herren und Knechte, in der Waffenthat lebte die Macht und die Ehre; das Lehnwesen bildete sich aus. Dem Lehnsträger galt kein Recht mehr, als das der Lehnsfolge, dann sein eigener freier Wille. Unter den innern Kämpfen der Dynasten, zu einer Zeit, wo kein Besitz geheiligt, kein Rechtsanspruch geregelt war, entwickelte sich das Faustrecht (s. d.). Vergebens kämpfte die Reichsacht dagegen, der allgemeine Landfriede war Jahrhunderte lang nur ein frommer Wunsch. Städte, namentlich seit dem 11. Jahrhundert, waren inzwischen entstanden, und wie der Adel in seinen Burgen, so verschanzte sich der Bürger hinter festen Mauern. Es bildete sich das Zunftwesen (14. Jahrhundert), die Gewerbe begannen aufzublühen. Aus großen Grundbesitzern, mächtigen Vasallen, Beamten der Kaiser, Land- und Gaugrafen wurden unabhängige Fürsten, die auf den Reichstagen des Reiches Willen gegen die Kaiser vertraten, gerade wie später die Landstände den des Volkes gegen die einzelnen Fürsten. Nur durch Kämpfe aber gelangte man zu dieser Ordnung; erst mußte der Rechtsbesitz durch das Bündlerwesen gesichert werden; es entstand die Hansa (s. d.), der rheinische und der schwäbische Bund. Noch schlummerte damals aber die Wissenschaft, scheu barg sie sich in die Stille der Klosterzellen. Das Mönchsthum mit seiner überlegenen Geisteskraft und im Besitze des Wissens konnte sich leicht des religiösen Elementes der Weltherrschaft bemächtigen; es bildete sich die Hierarchie: die Kirche löste und band, sprach frei und verdammte, sammelte Reichthümer, versank aber bald in Uebermuth und Ueppigkeit. Um ihr Ansehen zu wahren, schuf sie die Inquisition; Bettelmönche und später Jesuiten sollten sie zur ursprünglichen Reinheit[241] zurückführen. – Noch weit früher war aus der reinen Mischung der Religiosität, Ehre und Tapferkeit die duftigste Blume des Mittelalters, das Ritterwesen, entstanden. »Ehre Gott und die Frauen!« war das oberste Gesetz jener Zeit. Glaubensmuth und Todesverachtung begeisterten Hunderttausende zu den Kreuzzügen (s. d.). Die Poesien der Minnesänger (s. d.) und Troubadours überwehten jenen gewaltigen Aufschwung mit zauberischem Blumendufte; der Glanz des Orientes spülte in jenen des Abendlandes herein. – Aus dem sinkenden Ritterthume ward das raub- und händelsüchtige Junkerthum, statt der Poesie und Minne begeisterte der Humpen. Das Schießpulver war erfunden, eine neue Art Kriegführung entstand, und so bildeten sich aus dem ritterl. Heerbann die Söldner, die Landsknechte. An die Stelle der adeligen Turniere trat das Ringelrennen, an die Stelle der Bankette der geschmacklose Mummenschanz (s. Maskenball); die edlen Minnesänger sanken zur »Zunft« der Meistersänger herab. Das Erhabene und Schöne verflachte sich, und die Finsterniß umspann Volk und Land. Da endlich erwachten mächtige Geister aus dem Schlummer und der Dunkelheit, von den Universitäten zu Bologna und Pavia brachten Deutsche das römische Recht mit, der Besitz wurde geregelt, das Faustrecht, die unsichtbare, blutbefleckte, »heilige« Vehme vernichtet. Es bildeten sich Vereine von Gelehrten, es entstanden Universitäten. Huß, Zwingli, Luther und Melanchthon begannen das Werk der Reformation, und das Mittelalter schritt ernst und bedächtig hinein in das immer mehr reisende Mannesalter unserer Zeit voll Licht, Wärme und Leben.

B....i.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 7. [o.O.] 1836, S. 240-242.
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