[274] Soirèe. Wie Alles, was auf Sitten und Gebräuche, auf das Reich socieller Ideen influirt, meist von dem beweglichen Lande jenseits des Rheins zu uns herüberkam, so suchte man auch in neuerer Zeit in Deutschland die noch von einer ziemlich strengen Etiquette beherrschten Abendcirkel mehr oder minder den leichtbeschwingten Soiréen der Seinestadt zu nähern. Und in der That der seine Geschmack jener Geselligkeit, welche zu ihrer eigenen Erhaltung nichts als des einfachen Zaubers einer geistreichen und eleganten Conversation bedarf, jene socielle Kunst, die auf dem ausgebildetsten Zartsinn und einer ätherischen Verflüchtigung alles Schweren und Materiellen basirt, in den reinen Krystallvasen einer anmuthigen, graziösen Sprache geistige Nahrung reicht und empfängt, die wahre Humanität an der Seite der höchsten Verfeinerung des Geschmacks, der Sitten, der Manieren, waltet mit ihrem lächelnden Scepter vor allem in den Soiréen von Paris. Hier lernt der Fremde erst wahrhaft den Grad eines Gebildeten, eines »homme bien appris,« einnehmen; hier erhält er erst die Weihe der seinen Welt und ihre besten Ueberlieferungen; hier hört er erzählen mit jenem Reiz des Geistes, der sich nicht erlernen läßt, der sich aber demjenigen einprägt, der sein genug ist, ihn zu verstehen und Vergnügen daran zu finden. In den spirituellen Abendcirkeln, denen Frauen von echter Repräsentation (s. d.) vorstehen, gruppirt sich die noble, d. i. die geistreiche, die gesittete Welt; hier bilden sich die Cotterien von Schriftstellern, Weltmenschen, das geistreiche Rendezvous von Staatsmännern, Künstlern, Frauen von Geist oder Schönheit, die in ihrer Vereinigung erst im wahren Sinne des Wortes eine »Gesellschaft« bilden. Man bewegt sich in seiner Grazie, in gefälliger, von Stolz wie Demuth, von graziöser Sentimentalität wie vaguer Bonhommie gleichweit entfernter Ungezwungenheit; man lacht, man scherzt, man medisirt auch wohl, aber der Affront selbst lächelt hinter Blumen hervor, und ist gewürzt von dem schalkhaften Lächeln der treffendsten Ironie. In[274] diesen Réunions von seiner französischer Sitte, voll jener liebenswürdigen Unscheinbarkeiten, womit sich der Geist der schönen Welt so gern beschäftigt, herrscht die wohlthätige Strenge, die genaue Kritik in Sachen des guten Geschmacks, die auferlegte Bedingung der wahren Politesse, einer, so zu sagen, auf's Höchste potenzirten geistigen Gourmanderie, stillschweigend eingeräumt von einem Jeden, der in der Welt lebt, d. h. nobel lebt. Da hört man nichts von jenen demüthig-stolzen Einladungen auf ein »Abendessen, Imbiß etc.,« nichts von einer vorherigen Aufnahme fremder Personen in den Haus- und Küchenorden, nichts von der Zumuthung, an den Freuden und Leiden unbekannter Haushaltungen Theil nehmen zu müssen, nichts von jener steifen Höflichkeit, die hie und da (in Deutschland) bei uns noch den Fremden erdrückt. Freilich für Leute, die gern sehr bequem sind und früh schlafen gehen wollen, müssen die jetzigen Soiréen trotz der Ungenirtheit, welche in ihnen immer mehr zur Regel wird, doch stets einigen Zwang mit sich führen. In Paris beginnen sie nie vor 10 Uhr, und oft graut der Tag, ehe die Salons (s. d.) völlig von den Besuchenden leer werden. Dafür bildet jedoch die Kette der Soiréen, die sich in Paris wie Zauberbande um den Fremden lagern, das eigentliche Leben der Stadt und insbesondere auch den Esprit, wie die Materie der Saison (s. d.).
B.