[51] Antinomie: Widerstreit zweier Gesetze (nomoi), zweier Urteile oder Schlüsse, welche (anscheinend) von gleicher Überzeugungskraft und Geltung sind, wiewohl sie einander widersprechen. Der Terminus »antinomia« wird nach GOCLEN gebraucht »pro pugnantia seu contrarietate quarumlibet sententiarum seu propositionum« (Lex. phil. p. 110). BONNET hat ihn in die natürliche Theologie eingeführt (vgl. EUCKEN, Termin.).
Der Begriff der Antinomie findet sich schon bei dem Eleaten ZENO (s. Bewegung), PLATO (Phaedo 102; Rep. 523 ff., Parm. 135 E), ARISTOTELES und den Skeptikern. Der eigentliche Begründer der philosophischen Antinomienlehre ist KANT. Unter Antinomien versteht er »Widersprüche, in die sich die Vernunft bei ihrem Streben, das Unbedingte zu denken, mit Notwendigkeit verwickelt, Widersprüche der Vernunft mit sich selbst« (Kr. d. r. V. S. 340). »Den Begriff eines absoluten Ganzen von lauter Bedingtem sich als unbedingt zu denken, enthält einen Widerspruch; das Unbedingte kann also nur als Glied der Reihe betrachtet werden, welches diese als Grund begrenzt, der selbst keine Folge aus einem andern Grunde ist, und die Unergründlichkeit, welche durch alle Klassen der Kategorien geht, sofern sie auf das Verhältnis der Folgen zu ihren Gründen angewandt werden, ist das, was die Vernunft mit sich selbst in einen nie beizulegenden Streit verwickelt, solange die Gegenstände in Raum und Zeit für Dinge an sieh und nicht für bloße Erscheinungen genommen werden« (Üb. d. Fortschr. d. Met. S. 130). Den »dialektischen Schein«, welcher auf unkritischem Boden entsteht, hat die Kritik der Vernunft aufzulösen. Vier Antinomien entstehen nämlich, indem die Vernunft nach dem Grundsatze: »wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte, gegeben«, die absolute Totalität der Erscheinungen fordert. Jede Antinomie besteht aus einer »Thesis« (Behauptung) und »Antithesis« (Gegenbehauptung). 1) »Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.« – »Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, sondern ist, sowohl in Ansehung der Zeit als des Raumes, unendlich« (l.c. S. 304 ff.). 2) »Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist.« – »Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert Überall nichts Einfaches in derselben« (l.c. S. 360 f.). Das sind die mathematischen Antinomien. Bei ihnen sind, vor dem Forum der Kritik, sowohl Thesis als Antithesis falsch, weil Raum, Zeit, Einfachheit, Zusammengesetztheit nicht Bestimmungen von Dingen an sich, sondern nur von Erscheinungen sind. »Man mag nämlich... annehmen, die Welt sei dem Raume und der verflossenen Zeit nach unendlich oder sie sei endlich, so verwickelt man sich unvermeidlich in Widersprüche mit sich selbst. Denn ist die Welt, so wie der Raum und die verflossene Zeit, die sie einnimmt, als unendliche Größe gegeben, so ist sie eine gegebene Größe, die niemals ganz gegeben werden kann, welches sich widerspricht.[51] Besteht jeder Körper oder jede Zeit in der Veränderung des Zustandes der Dinge aus einfachen Teilen, so muß, weil Raum sowohl als Zeit ins Unendliche teilbar sind,... eine unendliche Menge gegeben sein, die doch ihrem Begriff nach niemals ganz gegeben sein kann, welches sich gleichfalls widerspricht« (Üb. d. Fortschr. d. Met. S. 132). Mögliche Erfahrung hat weder eine Grenze noch kann sie unendlich sein; die Welt als Erscheinung ist aber nur das Object möglicher Erfahrung (l.c. S. 133). – 3) »Die Causalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Causalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.« – »Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur« (Kr. d. r. V. S. 368 f.). 4) »Zu der Welt gehört etwas, das entweder als ihr Teil oder ihre Ursache ein schlechthin notwendiges Wesen ist.« – »Es existiert überall kein schlechthin notwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache« (l.c. S. 374 f.). Das sind die dynamischen Antinomien. Hier gilt die Thesis für die Welt der Dinge an sich, die Antithesis für die Erscheinungen, beide sind also wahr (l.c. S. 432 ff.). – Allgemein beruhen die Antinomien auf einer »natürlichen Täuschung«, weil man »die Idee der absoluten Tolalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat« (l.c. S. 411). Als »regulatives Princip« enthalten aber die Antinomien die berechtigte Forderung, daß, »soweit wir auch in der Reihe der empirischen Bedingungen gekommen sein mögen, wir nirgends eine absolute Grenze annehmen sollen« (l.c. S. 420). Aus den mathematischen Antinomien folgert KANT auch (nochmals) die Idealität (Subjectivität, (s. d.)) von Raum und Zeit (Kr. d. r. V. S. 411 f.; vgl. VON HARTMANN, G. d. Met. II, 4). An Garve schreibt er: »Nicht die Untersuchungen vom Dasein Gottes u.s.w., sondern die Antinomie der reinen Vernunft war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb« (vgl. A. STEIN, Üb. d. Bez. Chr. Garves zu Kant 1884, S. 44 f.). Es gibt drei Antinomien, die alle die Vernunft zwingen, die Objecte der Sinne für Erscheinungen zu halten (Kr. d. Urt. § 57, Anmerk. II): erkenntnistheoretische, ästhetische, ethische Antinomie (ib.). Bezüglich des ästhetischen Geschmacks behauptet die Thesis, das Geschmacksurteil gründe sich nicht auf Begriffen, die Antithesis: es gründe sich auf solchen, sonst ließe sich nicht über den Geschmack streiten (l.c. § 56 f.). Auch bezüglich der teleologischen Urteilsskraft (s. d.) besteht eine Antinomie (l.c. § 69 ff.). In der Ethik gibt es eine Antinomie zwischen Tugend und Glückseligkeit als Motiven (Kr. d. pr. Vern. 1. T., 2. B., 2. Hptst.). FRIES legt auf den Beweis der Idealität von Raum und Zeit aus den Antinomien großes Gewicht (Neue Krit. I2, Vorr.). FICHTE, SCHELLING, HEGEL (auch HERBART) haben das antinomische Verfahren verwertet. Nach HEGEL gibt es eine Antinomie in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen (Encykl. § 48). SCHOPENHAUER erklärt die Kantschen Beweise für die Thesen als »Sophismen«, während die Antithesen berechtigt seien (W. a. W. u. V. Bd. I). WUNDT führt die mathematischen »Antinomien« Kants auf die Vertauschung des »Infiniten« ulld »Transfiniten« zurück. Da die Thesen die vollendete Unendlichkeit, das Transfinite, die Antithesen aber die unvollendbare Unendlichkeit, das Infinite, im Auge haben, so haben in Bezug auf Raum und Zeit Thesis und Antithesis recht (Log. II2, 1, S. 153, 461 f.; Ess. 3, S. 70; Syst. d. Phil.2, S. 340 ff.). Vgl. HODGSON, Phil. of Refl. II, 88 ff. Vgl. Unendlich, Antithetik, Teilbarkeit.[52]